Die Burg, der Graben und der Weltraumschrott

Der Barbar sorgt für einen ausgeglichenen Gefühlshaushalt in der Zivilisation, die er bedroht. Furcht, Ekel, wohliges Frösteln produziert er, wenn er mit den Waffen rasselt und auf grausige Weise für Tote sorgt. Heiterkeit und Schadenfreude erzeugt er, wenn er mit den Ausscheidungen der Zivilisation spielt, mit dem, was wir längst am Wegesrand der Geschichte liegen gelassen haben.

Dass die Russen aus den Überresten der Internationalen Raumstation in zehn Jahren einen Außenposten in All konstruieren wollen, meldet die Nachrichtenagentur Associated Press; über den IS schreiben Zeitungen, die Dschihadisten buddeln um die irakische Großstadt Mossul einen Graben. Während Zar Dima Putin und sein sinistrer Hofstaat also bald auf Weltraumschrott durch die Erdumlaufbahn düsen, legt Abu Bakr al-Baghdadi im Burggraben noch mal schnell ein paar Krokodile nach, wenn die Ungläubigen kommen. Mittelalteralarm.

Die Lust an der Trennung zwischen denen und uns ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen, in den bunten Meldungen der Zeitungen. Angesichts dreister Landnahme in der Ukraine, verkaufter jesidischer Frauen und eines verbrannten jungen Mannes fällt solches Denken immer leichter, während sich Verstehen-Wollen zunehmend wie etwas anfühlt, für das man Schuld empfinden müsste.

Wer das Grausame hinter sich gelassen hat, darf urteilen. Und haben wir das nicht bereits, so wie wir die Burgen und bald auch den Weltraumschrott hinter uns lassen? Nicht dass sich der zivilisierte Mensch nicht eingestehen könnte, dass auch er ins Brutale zurückfällt. Zivilisationsbruch heißt diese Erzählung, sie erklärt Faschismus in Italien und Deutschland ebenso wie das französische Foltern in Algerien in den 50er und 60er Jahren mit Rückfällen in die Zeiten vor der Zivilisation. Alles Ausnahmen.

Was diese Erzählung nicht erklären kann, ist, dass wir willens sind, tausende Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken zu lassen. Die Europäische Union hat das italienische Seerettungsprogramm „Mare Nostrum“ durch die Operation „Triton“ ersetzt. Weniger Geld, weniger Hubschrauber, weniger Schiffe, weniger Rettung von Schiffbrüchigen, stattdessen vor allem Abwehr derselben. Ist es sehr zynisch, zu sagen, dass eine der reichsten und freiesten Zivilisationen der Geschichte eine Menge Tote in Kauf nimmt, um ihren Wohlstand und ihre Stabilität zu schützen? Dass also Grausamkeit und Gewalt von dem, was wir Zivilisation nennen, nicht zu trennen sind, sondern ihr Fundament?

Natürlich lebt es sich bei uns auf diesem Fundament weitaus besser. Als der Wettkampf der Systeme noch Kapitalismus vs. Sozialismus hieß, soll die soziale Marktwirtschaft in Westdeutschland auch deswegen so sozial gewesen sein, weil von der Gerechtigkeitspropaganda des Ostblocks ein gewisser Reiz ausgegangen sein soll, dem man in Bonn entgegenwirken wollte. Also Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, mächtige Gewerkschaften. Nicht dass die Bundesbürger in den Osten abhauen. So sagt es heute eine Theorie, deren Aussagekraft angesichts der gräulich-schrumpeligen DDR noch einmal zu prüfen wäre.

Aber eine gewisse Anziehungskraft scheinen selbst Rumpelrussland und das Kalifat zu haben. Nicht nur bei den dicken Jungs, die nach Syrien reisen und dort an feindlichen Stellungen die große Bombe geben dürfen. Sondern bei denen, die uns verteidigen sollen. Unseren Soldaten.

Was Offiziere der Bundeswehr über die Gesellschaft, die sie schützen sollen, so denken, das hat die FAZ in einem Buch gelesen: „Armee im Aufbruch: Zur Gedankenwelt junger Offiziere in den Kampftruppen der Bundeswehr“ liest sich demnach wie ein Bewerbungsschreiben nach Rakka oder Moskau. „Hedonistisch und individualistisch“ gehe es in Deutschland zu, schreibt da einer – und das ist nicht als Lob gemeint, die „Essenz der gesellschaftlichen Werte seien Selbstverwirklichung, Konsumlust, Pazifismus und Egoismus.“ Ein anderer erkennt eine „postheroische Gesellschaft“ mit einer „grundsätzlich dekadenten Haltung“. Schöner hätte auch Wladimir Putin über den Lotterwesten nicht schreiben können.

Und dabei wussten die Offiziere beim Schreiben noch gar nicht, dass einmal der Tag kommen könnte, an dem die dekadenten Peaceniks und ihr verweichlichter Nachwuchs sich im Internet darüber streiten, ob ein Kleid nun schwarz-blau ist oder weiß-goldfarben. Ja, echt, das war diese Woche das große Ding! Schauen Sie unter #dressgate.

Zum Glück haben wir auch die Bundeswehr schon aus dem zivilisatorischen Wir entfernt, indem wir die Wehrpflicht abgeschafft haben. Jetzt kann der Landser seinen eigenen Staat im Staat aufmachen.

DANIEL SCHULZ