In Räumen der Vergangenheit

GESCHICHTE In der Kohlhökerstr. 6 befand sich Bremens letzte jüdische Schule. Heute wohnt hier Susanne Schunter-Kleemann, die erst nach und nach von der Geschichte des Hauses erfuhr

Eines Tages klingelte ein kleiner, älterer Herr an der Haustür. Er sei hier zu Schule gegangen. Der von draußen sichtbare mehrarmige Leuchter habe ihn ermutigt, auf den Knopf zu drücken. Durch diesen Besuch im Jahr 1995 erfuhr Susanne Schunter-Kleemann Näheres über die Geschichte ihres Hauses, der Kohlhökerstraße 6. Gestern lud sie zu sich ein, um erstmals öffentlich von ihr zu berichten.

Otto Polak, der Mann, der geklingelt hatte, war eines von 51 Kindern gewesen, die in der Kohlhökerstraße Unterricht hatten. Es war ein Zwangsunterricht: Nach der Reichspogromnacht durften jüdische Kinder keine allgemeinen Schulen mehr besuchen, zugleich bestand für sie weiterhin Schulpflicht. Die jüdische Gemeinde wusste sich nicht anders zu helfen, als zwei Räume im hoffnungslos überfüllten „Judenhaus“ in der Kohlhökerstraße zu Klassenzimmern zu erklären. Die Gemeindeverwaltung, das Auswanderungsbüro, 14 Erwachsene und ein Kind sowie die Kleiderkammer wurden hier ebenfalls untergebracht. Letztere war unentbehrlich, weil Juden ab Januar1940 keine Kleidermarken mehr zugestanden wurden.

Von all dem wusste Schunter-Kleemann nichts, als sie 1985 Hochparterre und Souterrain kaufte. Der Vorbesitzer habe ihr nur gesagt, „irgendetwas Jüdisches war hier mal“, erzählt sie. Und als sie herausfand, dass das Haus der wohlhabenden Familie Grünberg gehört hatte, der aber rechzeitig die Auswanderung geglückt sein, sei sie sehr erleichtert gewesen.

Otto Polak jedoch hatte Schreckliches zu berichten. Als Siebenjähriger musste er jeden Tag allein von Kirchweyhe in die Kohlhökerstraße kommen, die Schule seines Heimatorts war für ihn tabu. Auf der Fahrt sei er regelmäßig angespuckt und geschlagen worden, auf dem Weg vom Bahnhof zur Schule versuchte er verzweifelt, den Judenstern an seiner Kleidung mit der Hand zu verdecken. Gelang das nicht, flogen Steine.

Seit ein paar Jahren liegen 50 Steintafeln im Vorgarten. Auf ihnen stehen die Namen der Kinder, mit denen Polak zur Schule ging. Sie wurden allesamt 1941 nach Minsk deportiert und dort ermordet. Polak überlebte, als einziger, weil seine Großmutter dem von den Behörden angekündigten, mehrtägigem „Schulausflug“ nicht traute. Als einziges aus Stuhr stammendes Kind gelang ihm dort das Überleben mit Hilfe mutiger Einwohner.

Wie fühlt es sich an, in Räumen mit solcher Vergangenheit zu leben? „Ich denke oft daran, wie die Menschen hier Blut und Wasser geschwitzt haben“, sagt Schunter-Kleemann, die vor ihrer Pensionierung als Lehrerin arbeitete. „Ich sitze hier sozusagen mit meinen Kindern – aber ich kann hier gut leben.“

Beim Streichen sei ihr schon früher aufgefallen, wie viele kleine Nagellöcher im Fensterrahmen waren. Otto Polak konnte ihr den Grund erklären: Die Fenster seien aus Sicherheitsgründen durch Bretter verkleinert worden, zumal das Haus, möglichst unauffällig, auch als Ersatz-Synagoge genutzt wurde. HENNING BLEYL