Der moderne Exodus

FLUCHT Verzweifelte Suche eines ehemaligen Kindersoldaten nach einem besseren Leben – zum Scheitern verurteilt?

VON MIRIAM YOSEF

Moses führte sein Volk durch die Wüste auf der Reise ins Gelobte Land. Die, die jetzt kommen, haben keinen Führer, noch kommen sie aus religiösen Gründen. Es sind meist Sudanesen, Äthiopier und Eritreer, die aus ihrem eigenen Land vor dem Krieg fliehen und Israel als sicheres Ziel ansehen. Die einzige Gemeinsamkeit: Auch beim heutigen Exodus reisen die Afrikaner zu Fuß.

Der heute 21-jährige Hiyoba wurde, wie viele andere Kinder, von der eritreischen Armee entführt und in ein Leben als Kindersoldat gezwungen: Zum Scharfschützen ausgebildet, muss er mit elf Jahren das erste Mal töten, bekommt nur alle drei Tage zu essen, wird zu bedingungslosem Gehorsam gezwungen. Zweimal wird er von einer Kugel getroffen, eine streift seinen Kopf. Nur mit Glück überlebt er. Insgesamt zehn Jahre ist er Soldat – bis ihm endlich die Flucht gelingt.

Albträume und Narben an Körper und Seele sind Überbleibsel dieser Vergangenheit. Wie viele Menschen er getötet hat, er weiß es nicht. Doch er träumt von einer Zukunft.

Als Deserteur lebt er fünf Monate lang unter armseligen Umständen in einem Flüchtlingslager in Äthiopien. Die Flucht nach Israel erscheint ihm als einzige Möglichkeit, seiner mörderischen Vergangenheit und der unerträglichen Gegenwart zu entkommen.

Menschenschmuggler bringen ihn gemeinsam mit anderen Flüchtlingen, ohne Pass und Papiere, in einem Container als blinde Passagiere auf einem Frachter über den Nil nach Sudan. Die hygienischen Zustände sind katastrophal, fünf Menschen sterben. Nach der Ankunft in Sudan geht es weiter in Richtung Ägypten – zu Fuß diesmal. Das Land ist im Kriegszustand, die Reise gefährlich. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion, unter Beschuss der ägyptischen Grenzsoldaten, gelingt die Grenzüberquerung.

Nach dreimonatigem Marsch dann der letzte große und riskante Schritt ihrer bisherigen Reise: der Grenzübergang nach Israel. Insgesamt 56 Flüchtlinge sind es, die die Grenze zusammen überqueren. Die ägyptische Armee eröffnet das Feuer. Die Afrikaner – Männer, Frauen, Kinder – rennen um ihr Leben. Acht sterben auf dem Weg in ein besseres Leben durch ägyptische Kugeln. Hiyoba, auf der israelischen Seite angelangt, wird von Soladaten in einen Bus nach Tel Aviv gesetzt. Er bekommt eine Aufenthaltsgenehmigung, vorübergehend.

Nach Europa möchte er gehen. Doch wie, ohne Pass? Seine Aufenthaltserlaubnis in Israel läuft in wenigen Monaten ab. Hiyoba hat panische Angst, dass die israelischen Behörden ihn nach Ägypten oder gar nach Eritrea zurückschicken, wo ihm als Deserteur die Todesstrafe sicher ist. Dass Israel nicht das Gelobte Land für ihn ist, weiß er inzwischen. Hiyoba, 21 Jahre alt, ehemaliger Kindersoldat, der eigentlich am Beginn seines Lebens stehen sollte, jedoch wieder das Ende vor Augen hat, will nicht aufgeben. Ein Kämpfer. Aber manchmal fragt er sich, ob es überhaupt für ihn existiert, ein „Gelobtes Land“.