Die Multikulti-Oasen von Xinjiang

In der Wüste Taklamaklan wurden in den letzten Jahrzehnten spektakuläre Funde gemacht. Sie beweisen, wie multiethnisch und vielfältig die Kulturen in den Oasen der Seidenstraße waren. „Ursprünge der Seidenstraße“ im Martin-Gropius-Bau zeigt China als Teil eines antiken Global Village

VON BARBARA KERNECK

Vor zwanzig Jahren entdeckte der US-Sinologe Victor Mair in einer dunklen Ecke eines kleinen Museums in Xinjiang die Mumie eines etwa 1,80 Meter großen blonden Mannes in einem elegant geschnittenen Anzug aus dunkelroter Wolle. Er wies eine verblüffende Ähnlichkeit mit Mairs Bruder auf. Mair stieß in örtlichen Instituten auf dutzende weiterer Mumien mit europäischen Zügen. Sie stammten aus dem Tarim-Becken in der Wüste Taklamaklan, einem der trockensten Gebiete der Erde. Die schnelle Dehydrierung hatte sie mitsamt allen Grabbeigaben konserviert. Die ältesten von ihnen waren den Radiocarbonanalysen zufolge fast 4.000 Jahre alt.

Der Wissenschaftler nahm an, dass es sich um Tocharier handele, Angehörige einer vorindogermanischen Ethnie, die hier von Westen her eingewandert seien und Pferdefuhrwerke sowie Techniken der Bronzeverarbeitung mitgebracht hätten. Doch als chinesisches Staatsdogma galt damals unumstößlich: Unsere einzigartige Zivilisation hat sich unabhängig von allen äußeren Einflüssen entwickelt! Mair wurde in seinen Forschungen stark behindert und durfte keine einzige Mumie ausführen.

Man sollte diese Geschichte kennen, um die am vergangenen Wochenende im Gropiusbau eröffnete Ausstellung „Ursprünge der Seidenstraße“ als graswurzelpolitische Leistung zu würdigen, als gemeinsamen Sieg der Reiss-Engelhorn-Museen in Mannheim und des Deutschen Archäologischen Instituts sowie vieler chinesischer Archäologen und Beamter. Mit von der Partie bei diesem Goodwill-Marathon war auch das Heritage Bureau der Uigurischen Autonomen Region Xinjiang. Denn zu allem Überfluss ist die Heimat der Funde auch seit etwa 1.300 Jahren die der Uiguren, einer turksprachigen Minderheit, die in der Volksrepublik vehement um ihre Menschenrechte kämpft.

Offizielle Presseerklärungen beziehen das Wort „sensationell“ allerdings nur auf die Neuheit und den Erhaltungszustand der etwa 190 hier gezeigten Funde. Aus der Zeit von ca. 2000 vor unser Zeitrechnung bis ca. 300 danach stammend, kommen sie daher wie frisch vom Flohmarkt. Außerhalb der Provinz Xinjiang sah sie bisher niemand. Von der Harfe über die Goldmaske bis hin zum spinnwebdünnen, blütenbestickten Seidenhandschuh wurden sie erst in den vergangenen 15 Jahren ausgegraben.

Wenn den Besuchern der Ausstellung nach einer halben Stunde der Hals trocken wird, so auch um der Funde willen. Die vertragen nämlich kaum Luftfeuchtigkeit. Feucht werden dafür manchem die Augen, angesichts der – in kluger Beschränkung – einzigen ausgestellten Mumie. Da hat jemand um 800 v. Chr. sein verstorbenes Baby liebevoll in weiche Wolltücher gehüllt, ihm ein zweifarbiges Wollmützchen aufgesetzt und ein Trinkhörnchen mitgegeben, dazu einen Saugbeutel aus einem Schafseuter. Wer sich dann dem Begleitbuch zuwendet, dem bleibt angesichts des über Jahrtausende währenden kulturellen Wirrwarrs in der Region die Spucke weg.

Korrekt müsste das Wort „Seidenstraße“ immer in der Mehrzahl stehen. Es handelte sich nämlich um ein ganzes Netz von Handelswegen, an denen dutzende von Ethnien und Kulturen sesshaft geworden waren oder als Reiternomaden um die bewässerten Oasen wanderten. Auch Tocharier gab es hier, ob sie aber eingewandert waren oder gar erst von hier aus nach Westen zogen, weiß niemand. Chinesen wurden hier etwa 200 v. Chr. sesshaft. Seit der Bronzezeit finden sich in den Gräbern des Tarimbeckens ebenso europide wie mongolide Verstorbene, bisweilen als Mitglieder ein und derselben Sippe kenntlich. Es scheint, als ob kulturelle Merkmale für ihr Zugehörigkeitsgefühl wichtiger waren als das Aussehen.

Die Bewohner der Oasen müssen sich als Nabel der damaligen Welt empfunden haben. Denn sie ermöglichten diese Lebensadern erst, indem sie Stützpunkte für die Handlungsreisenden zur Verfügung stellten. Aber sie waren auch Abnehmer für die schönsten und raffiniertesten Waren ihrer jeweiligen Zeitgenossen, vom chinesischen Lackkämmchen bis zur römischen Bronzeplatte mit Gladiatorendarstellung. Das Plakat zur Ausstellung zeigt die Ausstattung eines Verstorbenen aus dem 3. bis 4. Jahrhundert n. Chr. aus Yingpan im südöstlichen Tarim-Becken. Der fast 2 Meter große Mann trägt eine Totenmaske mit weißer Grundierung und einer langen Nase. Sein Wollkaftan ist nach der Art sogdischer Kaufmannstrachten geschnitten. Die Sogder waren ein iranisches Volk aus Mittelasien. Die Stickereien wiederum zeigen Satyrn und Ziegenböcke aus dem hellenischen Raum. Beigegeben hat man dem Herrn eine oströmische Glasschale.

Schriftliche Dokumente tauchen in Xinjiang im 1. Jahrhundert n. Chr. auf. Die Umgangssprache der Bewohner einer Oase unterschied sich meist von deren Verwaltungs- oder Kanzleisprache. Hinzu kamen die sakralen Sprachen diverser Religionen. Ab dem 7. Jahrhundert waren in der Region ost- und mitteliranische Sprachen in Gebrauch, Sanskrit, Tocharisch, Chinesisch, Alttürkisch, Uigurisch und Tibetisch. Dabei griffen die Träger einer Sprache oft abwechselnd zu einer griechischen, indischen oder aramäischen Schrift, um ihren Lauten Ausdruck zu verleihen. Die Diplomaten haben heute schon davon gelernt, den diplomatischen Wissenschaftlern bleibt noch viel zu tun.

Die Ausstellung im Martin-Gropius-Bau Berlin ist bis zum 14. Januar zu sehen. Der Begleitband, erschienen im Theiss Verlag, kostet 24,50 €