Der Körper wird zum Tauschgut

Forscher der evangelischen Kirche haben das Lebensgefühl von Armen in Wilhelmsburg untersucht. Sie fanden dabei das Gefühl einer großen Perspektivlosigkeit. Vertreterin der Diakonie fordert Hilfe, die soziale Teilhabe ermöglicht

Ein Leben in Armut perpetuiert sich leicht selbst. Das ist ein Fazit, das sich aus einer gestern vorab vorgestellten Studie der evangelischen Kirche zum Lebensgefühl von Armen in Wilhelmsburg herauslesen lässt. Wer arm und ohne Arbeit ist, versinkt in Einsamkeit und hat Mühe, nicht zu verkommen. Wer trotz eines Jobs arm ist, kann seine Kinder nicht zur Ausbildung motivieren. Und wenn Arme sich treffen, können sie sich zwar gegenseitig stützen. Zugleich bestärken sie sich aber im Gefühl der Ausweglosigkeit.

Diese Muster sind in Gruppengesprächen aufgetaucht, die Forscher im Auftrag des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) geführt haben. Im Rahmen des Forschungsprojekts „Teilhabe von unten“ sprachen sie mit neun Gruppen von Armen darüber, wie sie ihr Leben wahrnehmen: Männer, Frauen, Alte, Junge. „Wir können zeigen, wie Armut funktioniert“, sagte Claudia Schulz, die Leiterin der Studie in der St. Raphaelkirche in Wilhelmsburg.

Auffällig bei den meisten Gesprächen sei gewesen, dass die Armen Wunschträume entweder gar nicht formulieren wollten oder wenn, nur abstrakte Vorstellungen äußerten, sagte Schulz. Die Träume hätten sich auf die Lösung des nahe liegendsten Problems gerichtet – etwa Schulden abzubezahlen – oder sie seien weit jenseits der Realität angesiedelt gewesen. Eine Gruppe von Männern habe sich ausgemalt im Lotto zu gewinnen und mit dem Geld ein Krankenhaus in Afrika zu bauen. Von einem anschließenden Job sei nicht die Rede gewesen.

Die Arbeitslosen hätten das Gefühl, keine Chance auf einen Job zu haben. „Das Arbeitslosengeld II wird von ihnen als Abfindung angesehen“, sagte Schulz – als Abfindung für eine Situation, die sie nicht ändern zu können glauben.

Dabei tritt bisweilen eine fatale Gruppendynamik auf: Eine Gruppe arbeitsloser Frauen habe sich in dem Gefühl der Chancenlosigkeit bestärkt, offenbar um die eigene Lebenssituation besser ertragen zu können. Als eine einzelne Frau sagte, sie glaube, erfolgreich eine Ausbildung machen zu können, wurde das von den übrigen niedergeredet.

Gabi Brasch von der Diakonie Harburg betonte, dass die Armen materiell besser abgesichert werden müssten, um sich am Gemeinschaftsleben beteiligen zu können und um die Kraft dafür zu schöpfen, Bildungsangebote wahrzunehmen. Seit 1990 sei die staatliche Unterstützung gedeckelt. Die Art, wie sie berechnet werde, kümmere sich nicht um den tatsächlichen Bedarf, sagte sie.

Um sich Spielräume zu verschaffen, hätten manche Gesprächspartnerinnen verdorbene Lebensmittel gegessen, sagte Schulz. „Der Körper wird zum Tauschgut.“ GERNOT KNÖDLER