Isolationsfolter der Ideale

Die heilige RAF: Der Versuch, der Wirklichkeit mit religiösem Eifer beizukommen – eine seit dem Mittelalter bewährte Methode

Die Attentate, die von der so genannten dritten Generation der RAF zwischen 1985 und 1991 verübt wurden, sind bislang unaufgeklärt. Der Vorstandsvorsitzende der Motoren- und Turbinen-Union, Ernst Zimmermann, wird am 1. Februar 1985 in seiner Wohnung in einem Münchner Vorort erschossen.

Am 9. Juli 1986 bekennt sich die RAF zum Mord am Siemens-Vorstand Karl Heinz Beckurts und dessen Fahrer Eckhard Groppler. Unbekannt ist auch, wer am 10. September 1986 den Ministerialdirektor Gerold von Braunmühl im Namen der RAF getötet hat. Auch im Fall des Vorsitzenden der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, der am 30. November 1989 mit einer elektronischen Sprengstofffalle getötet wird, werden kaum Spuren sichergestellt.

Das letzte Attentat gilt dem Chef der Treuhandanstalt in Berlin: Detlev Karsten Rohwedder wird am 1. April 1991 in Düsseldorf erschossen. Auch dieser Mord ist nicht aufgeklärt – nach ausgewerteten DNA-Spuren glauben die Ermittler, dass der 1993 bei einer Schießerei mit der Polizei getötete Wolfgang Grams an diesem Anschlag beteiligt gewesen sein könnte. TAZ

VON MICHAEL RUTSCHKY

Neulich erzählte die Lehrerin A. liebevoll von dem jungen Z., mit dem sie die halbe Nacht diskutiert habe. Über die Ungerechtigkeit in der Welt, dass die einen so viel haben und die anderen so wenig, dass die einen nicht wohin wissen mit ihrem Reichtum, während andere verhungern.

„Diskutieren“, so die Lehrerin A., konnte man das nur schlecht nennen. Sie hörte zu, während der junge Z. quälend vor sich hin grübelte und ein scheußliches Beispiel auf das andere häufte (als ob er böse Geister beschwor, so die Lehrerin A. beunruhigt). Von Josef Ackermann bis zu Robert Mugabe, von Darfur bis zu Hartz IV. Er schien das alles persönlich zu nehmen. Auf eine magische Weise fühlte er sich mitverantwortlich. Er konnte seinen Tagesbedarf an Nahrung, Kleidung, Energie so lange mit dem Elend der Welt in Beziehung setzen, bis er es mitverursacht hatte.

Sie fühlte sich, so die Lehrerin A., an einen frühen Film von Alexander Kluge erinnert, wo Leni Peickert oder eine andere dieser Traumschönen oder Kluge selbst mit seiner mütterlichen Verführerstimme den Satz sagt, der sie selbst, als sie jung war, ins Herz getroffen habe: Jeder ist an allem schuld, und wenn alle das wüssten, hätten wir das Paradies auf Erden. Irgendwann kam Z. auf die RAF zu sprechen, der Bundespräsident hatte gerade das Gnadengesuch von Christian Klar abgelehnt. Selbstverständlich verabscheue er Gewalt, habe er deklamiert – aber Gewalt sei es doch auch, der die Opfer von Darfur und letztlich die Opfer von Hartz IV ausgeliefert seien?

Dass man unbedingt was tun müsse gegen die Ungerechtigkeit in der Welt, das könne er, schloss der junge Z. befriedigt, nur allzu gut verstehen. Die Armut, das Elend, die Ohnmacht, man muss den Kampf dagegen aufnehmen – keine Frage, dass Christian Klar und die Seinen zu den falschen Waffen gegriffen haben. Schaut man sich das extraordinäre TV-Interview an, das Günter Gaus mit Christian Klar geführt hat, so erkennt man, wie der Terrorist unentrinnbar befangen ist in genau dieser Art von Idealismus, wie der junge Z. ihn beglaubigt.

Die Armut, das Elend, die Ohnmacht in Darfur oder Gaza oder Tschetschenien, sie finden sich nicht draußen in der Wirklichkeit und müssten nach deren Regeln bekämpft werden, keineswegs, das Elend der Welt ist eine Sache des Selbstbezugs. Jeder ist an allem schuld, und ich will von dieser Schuld kein Milligramm mehr tragen. Weil sich so viel an politischer Diskussion aufs Moralische, Ethische verlagert hat (als befände man sich dann in der reineren und gründlicheren Diskussion), werden die Gefahren dieses Idealismus unsichtbar, sein narzisstischer Charakter.

Um kein Milligramm ihres Elends hat die RAF die Welt leichter gemacht; im Gegenteil, sie hat Angst und Schrecken und Verzweiflung vermehrt. Die RAF hat in den Siebzigern dafür gesorgt, dass viele der schönen Erfolge von Achtundsechzig sich verdunkelten respektive nicht erweitert werden konnten. Die RAF verschleierte, dass wir auf dem besten Weg waren zu gewinnen.

Ihr Idealismus stellte es so dar, als wäre die Bundesregierung, an deren Spitze Willy Brandt zu bringen fast zehn Jahre gekostet hatte, ein protofaschistisches Regime, gegen das nur noch die Methodik des Tyrannenmordes hülfe. Andres Veiels Film „Black Box BRD“ hat gründlich dokumentiert, dass Alfred Herrhausen jedenfalls der Tyrann nicht war, dessen Beseitigung das Elend der Welt gelindert hätte – und Wolfgang Grams nicht der Engel der Tugend. Lutz Hachmeisters Schleyer-Biografie zeichnet einen bedenklichen Lebenslauf nach – aber inzwischen bewundert man’s eher, wie dieser Mann mit dieser Vorgeschichte in die Bundesrepublik hineingefunden hat (eine Fragestellung, die Heinrich Breloer in seinem „Todesspiel“ vorsichtig verfolgt).

Schatten in der Höhle

Doch sind das historisch-empirische Sachlagen, wie sie der Idealismus verachtet. Weil es ihm nur um den Selbstbezug geht, bleibt dem Idealismus gleichgültig, dass mit Buback, Ponto, Schleyer et al. keine Tyrannen beseitigt wurden, weshalb die Welt aufatmet. Die sogenannten Agenten des Kapitals, sie waren Schatten in der Höhle, wo der Idealist mutterseelenallein über seinen Idealen brütet. Ihm in seinem Selbstbezug sollte die Liquidation jener schattenhaften Charaktermasken Erleichterung verschaffen, was natürlich misslang, wie man an Christian Klar im TV-Gespräch mit Günter Gaus so erschütternd studieren kann.

Die Bundesrepublik der Siebzigerjahre, in der soeben die SPD gemeinsam mit der FDP den ersten Regierungswechsel geschafft hatte, sie erschien als eine durch und durch falsche Welt, die ein substanziell richtiges Leben verunmöglicht. Obwohl der neue Bundeskanzler als Emigrant von jeder NS-Mitschuld frei war; obwohl augenscheinlich eine Wählermehrheit seiner Parole, wir wollen mehr Demokratie wagen, folgen wollte und die Kulturrevolution akzeptierte, welche die Protestbewegung in so vielen Bereichen angezettelt hatte – neue Verhältnisse zwischen Mann und Frau, Jung und Alt, Oben und Unten, Triebgeschehen und gesellschaftlicher Kontrolle –, blind gegen die neuen Entwicklungen eröffnete die RAF den Kampf, als wolle das Reich der Finsternis unmittelbar hereinbrechen. Dabei berief sie sich bekanntlich auf so etwas wie eine wissenschaftliche Analyse marxistischer Provenienz, das Kapital, der Imperialismus, die herrschende Klasse, die Metropolen. Allerdings fehlte, was zu Kampf und Krieg notwendig gehört, eine Vorstellung von Erfolg und Sieg.

Angeblich verübte die RAF ihre Schreckenstaten im Namen der Verdammten der Erde – doch verhielten sie sich de facto so individualistisch wie die islamistischen Selbstmordattentäter, die vorzüglich ihre höchstpersönliche Märtyrerseligkeit erstreben. Weil es um persönliche Erlösung geht, fällt das strenge Erfolgskriterium, unter dem kämpferische Handlungen stehen – man siegt oder verliert –, aus.

Ein „Volk Gottes“

Die RAF gehört in die Religionsgeschichte (und macht wieder darauf aufmerksam, dass das Religiöse nicht per se das Liebe, Gute, Schöne ist); Gaus’ Interview führte einen Heiligen vor, und es berührt als Wahrheit, dass Eva Haule über die Fotografie aus dem hermetischen Innenraum der Ideale herausfand, die Fotografie, die substanziell auf eine Welt draußen vertraut.

Die verwirrenden Verhältnisse von Religion und Politik finden in unseren Kreisen selten interessierte Beobachter; auch hier scheint es nur noch um die sogenannten Werte zu gehen, wer ihnen wie intensiv anhängt, ob womöglich die katholische Kirche eine besonders feste Burg gegen den Kapitalismus und seine zerstörerische Dynamik bilden könnte, and all that jazz.

Zugegeben, ein Forscher wie Eric Voegelin ist eine bizarre Figur. Doch seine Studien über das „Volk Gottes“ (als welches sich alle Gruppierungen erkennen, die durch Politik Erlösung erstreben) und die „politischen Religionen“ (die entsprechenden chiliastischen Politikkonzepte), die Lektüre dieser Schriften erlöst nicht vom Druck der politisch-religiösen Semantik. Aber die Lektüre erleichtert, weil man das Problem samt seinem Gewicht deutlicher zu fassen bekommt.

So gut wie gar nicht bei uns angekommen sind die Forschungen des ehrwürdigen Norman Cohn zum „Millenarismus“, wie man diesen Glauben im Englischen nennt. Sie beginnen im Mittelalter und dringen bis zu Rousseau und Marx vor, und als Rowohlt dessen Studie („The Pursuit of the Millenium“, 1970) auf Deutsch veröffentlichte, musste ein Nachwort abwiegeln, weil sie womöglich unsere Heiligen und ihre Segenstaten beleidigt. Die neuesten Forschungen stammen von einem gewissen John Gray – noch nie gehört, stimmt’s? Diese Studien demonstrieren, wie das Religiöse ununterbrochen Druck auf das Politische ausübt, die Politik soll Heilsgeschehen werden.

In der Geschichte der Bundesrepublik hat die RAF wie keine andere Gruppierung diesen Zusammenhang exemplifiziert (die Versuche der DDR, ein sozialistischer Gottesstaat zu werden, kann man vergessen). Das Religiöse ist gleichsam das Triebgeschehen, das immer wieder in die Politik eingreifen und alle Kontroll- und Abwehrmaßnahmen überlisten will. Oft merkt man das kaum – aber zuweilen kommt es zu Katastrophen, die dann lange die Aufmerksamkeit beschäftigen. Womöglich erklärt sich das alles aus dem Schuldgefühl, das die moderne Zivilisation so erfolgreich als zentrale Sinnressource nützt. Jeder möchte an allem schuld sein, noch die erste Mordtat des jüngsten Taliban hat der Kolonialismus zu verantworten, also „wir“. Das eröffnet ungeheure Handlungsspielräume. Die wiederum das Schuldgefühl vermehren – aber das ist ein anderes Thema.

Michael Rutschky, Jahrgang 1943, veröffentlichte 1980 mit dem Buch „Erfahrungshunger. Ein Essay über die siebziger Jahre“ (Kiepenheuer & Witsch) eine erste Bestandsaufnahme des vom RAF-Terrorismus geprägten Jahrzehnts