Der Traum von Indien

Familienleben im Haus 262 im Sector 22, Chandigarh. In der indischen Planstadt scheiden sich Tradition und Moderne auch an Bauvorschriften

AUS CHANDIGARH BÄRBEL HÖGNER (TEXT & FOTOS)

Laut dröhnendes Trommeln im Wohngebiet Sector 22 in Chandigarh. Mit ihrem Bhangrarhythmus versuchen die Musiker, die Nachbarschaft vor den Reihenhäusern zum Tanzen zu bringen. Wilde Farbpulverschlachten folgen. Grün, Pink, Gelb und Blau. Hemd, Haut und Haar der Bewohner des vor 55 Jahren angelegten Stadtteils sind bunt gesprenkelt. Es ist Holi, das hinduistische Fest der Farben. Bei Familie Rawat im Haus mit der Nummer 262 allerdings müssen sich die Kinder und Enkel für dieses Vergnügen noch gedulden, denn eine weitere Feier ist hier anberaumt: Hawan, die Zeremonie für ein vor elf Tagen geborenes Baby.

Deswegen steht das Sofa an diesem Vormittag im Vorgarten, und der Esstisch ist hinterm Haus neben dem Gemüsebeet verstaut. Im leer geräumten Wohnbereich sitzt der Priester auf dem Boden und improvisiert einen kleinen Altar. Inzwischen mischt Vikas Rawat, der Vater des Neugeborenen, verschiedene Kräuter, Körner und Rinden. Sie sind für das zentrale Element des Havan, das rituelle Feuer aus Mangohölzern auf dem Altar, bestimmt.

Würzige Düfte ziehen, aus der Küche kommend, durch das Haus. Hier drängen sich auf sechs Quadratmetern drei Verwandte, um Gemüse und Süßes für die Großfamilie zuzubereiten. Ein entfernter Cousin hat sogar seine Hochzeitsreise unterbrochen und ist mit seiner Frau aus Mumbai angereist, um jetzt im Haus der Großeltern das neue Familienmitglied zu begrüßen.

Um die Feuerstelle nehmen die engsten Familienangehörigen im Schneidersitz ihren Platz ein, der Rest der gut zwanzig zur Feier erschienenen Personen der Familie drängt sich stehend nebenan im zweiten Zimmer des Erdgeschosses. Eingeleitet wird das Ritual mit dem Anrufen der Götter, und anschließend zündet der Priester die aufgeschichteten Hölzer an. Gebannt verfolgen alle die Entwicklung des Feuers, bis die Flammen knapp einen halben Meter hoch schlagen.

Als Erste werfen die Eltern des Babys die Kräutermischung in die Flammen. Glückverheißend soll sie sein. Reihum schließen sich die weiteren Anwesenden an. Mehrere Minuten hüllt dichter Qualm alle ein. Er verhindert jegliche Sicht. Das Baby, im Schoß der Mutter liegend, ist in ein dickes Samttuch gewickelt und bleibt still, wie überhaupt – trotz Atemnot – die Atmosphäre von Ruhe und Konzentration gekennzeichnet ist. Nach dem Abschlussgebet verteilt der Priester die Früchte und Süßigkeiten, die den Göttern geweiht waren. Lachen kommt auf, das Baby ist nun im Familienkreis aufgenommen.

Das Haus der Rawats liegt in Chandigarhs ältestem Wohnviertel und ist im klassischen „Chandigarh-Stil“ gebaut. Gestalterisches Hauptmerkmal: gerade Linien. Einheimische bezeichnen das puristische Konzept, das Ähnlichkeiten mit der Bauhausarchitektur hat, gerne als „box-style“. Böse Zungen vergleichen die Häuser mit Taubenschlägen.

An der sich durchweg gleichbleibenden architektonischen Gestaltung des „Designmuseums“ Chandigarh hat Balwan Singh Rawat wenig auszusetzen. Mehr stört sich der 72-Jährige an der Aufteilung seines zweigeschossigen Heims. „Die Küche war zu klein geplant, und es ist unpraktisch, dass es im Erdgeschoss nur den Wohnbereich gibt. Beide Schlafzimmer sind oben, wie auch das Bad und die Toilette.“ Insbesondere aber das schmale Treppenhaus ärgert ihn: „Es ist zu eng. Man kann nicht mal ein Bett hochtragen.“

Vor Jahren bereits hat die Familie eine Toilette hinter dem Haus installiert. „Man kann nicht immer von den Gästen verlangen, dass sie in den ersten Stock gehen“, entschuldigt Balwan Singh Rawat den Anbau. Eine illegale Erweiterung. Die Moderne Chandigarhs prägte auch Indiens Architektur nach der Entlassung des Landes in die Unabhängigkeit. Inzwischen wurde sie in einigen Stadtvierteln von der Stadtverwaltung unter Denkmalschutz gestellt.

Balwan Singh Rawat kam 1957 nach Chandigarh. „Ich hatte gehört, dass ein neuer Verwaltungssitz im Punjab gebaut würde, und hoffte auf eine Stelle im Staatsdienst.“ Lachend erinnert er sich, wie er mit dem Zug das erste Mal in der Stadt eintraf und meinte, falsch ausgestiegen zu sein: Der Bahnhof glich einer Baracke und entsprach ganz und gar nicht seiner Vorstellung von einer neuen Hauptstadt. Sein ganzes Geld hatte der inzwischen fünffache Großvater in die Zugfahrt investiert. Zuerst musste er sich mit Gelegenheitsarbeiten durchschlagen, als Hilfskoch und in einer Druckerei verdiente er sich die erste Unterkunft und ein Taschengeld, bis es 1958 mit der ersehnten Festanstellung im Staatsdienst und damit dem Anspruch auf eine staatlich geförderte Wohnung klappte. Seine erste Aufgabe: Akten von einem Büro zum anderen bringen, denn noch war die Verwaltung Chandigarhs in verstreut liegenden provisorischen Unterkünften untergebracht. Später war Rawats Arbeitsplatz die Bibliothek des Finanzministeriums im „Secretariat“, dem von Le Corbusier entworfenen Verwaltungsgebäude im Regierungsviertel. „Diese Architektur war etwas Besonderes, so was hatte es in Indien bis dahin noch nicht gegeben.“ Seine Augen funkeln: „Dort zu arbeiten, darauf war man stolz!“ Eine Kritik nur hat er, und wieder sind es die Treppen, die ihm missfallen – sie seien einfach zu eng für die insgesamt viertausend Beamten.

Als Balwan Singh Rawat 1992 in Pension ging, verlor er damit eigentlich auch den Anspruch auf seine staatliche Wohnung. Seine Tochter Yojna rettete die Situation. Als Professorin für Hindi an der Universität Chandigarhs hatte nun sie ein Anrecht auf das Reihenhaus im Sector 22, und da sie als Einzige in der Familie ihre berufliche Karriere einer Heirat vorgezogen hatte, fühlte sie sich für die Versorgung der Eltern zuständig. Statt in seinem Haus wohnt Balwan Singh Rawat eben im Haus seiner Tochter. Das Verhältnis ist spürbar innig. Dennoch ist die Stimmung seit kurzem getrübt. Weil die knapp vierzigjährige Yojna erklärt hat, künftig doch allein wohnen zu wollen. „Ich habe jetzt fünfzehn Jahre lang mein Haus für Familientreffen zur Verfügung gestellt“, sagt sie. „Es ist an der Zeit, dass meine Geschwister auch Verantwortung übernehmen.“

Solche Probleme um Wohnraumfragen werden ansonsten in Indien schlicht durch An- und Umbauten im Haus gelöst. Das aber ist in Chandigarh verboten. Was als Bauvorschrift die traditionelle indische Lebensweise im Familienverband erschwert. Einerseits. Und andererseits dem Bedürfnis der jüngeren Generation im städtischen Raum Indiens, die heutzutage ihre Lebensräume individuell gestalten will, entgegenkommt.

Trotzdem ist Balwan Singh Rawat davon überzeugt, dass Chandigarh die beste Stadt in Indien ist. Hier gibt es ausreichend Krankenhäuser, Schulen, breite Straßen, viele Parks. Umziehen mit seiner Frau Savitri wird er eben, in ein Apartment. In Chandigarh. Das Hauptproblem der von den Indern so genannten City Beautiful sei das Bevölkerungswachstum: „Die Stadt hat sich gut entwickelt, allerdings haben wir jetzt mehr Kriminalität, mehr Verkehr und Luftverschmutzung.“ Verärgert ist Rawat über die Politiker, die teure Projekte wie den Bau von Straßenbahnen anstreben und die Slumbildung nicht verhindern: „Sie holen dort ihre Wählerstimmen und zerstören die Harmonie der Stadt.“

BÄRBEL HÖGNER, Jahrgang 1960, ist Fotografin aus Frankfurt am Main, wo im Museum der Weltkulturen Ende 2006 ihre Fotodokumentation „Leben mit Le Corbusier“ über Chandigarh zu sehen war. Aktuell arbeitet sie an ihrer Dissertation in Ethnologie und hält sich zur Feldforschung in der indischen Planstadt auf