Der gute Schlächter

In seinem neuen Roman, „Der Marsch“, erzählt E. L. Doctorow von der Geburt des modernen Krieges in den Schlachten des Amerikanischen Bürgerkriegs

VON MICHAEL RUTSCHKY

Totale Mobilmachung, Blitzkrieg, verbrannte Erde – William Tecumseh Sherman gilt als Erfinder aller Schrecken der modernen Waffenkunst. Nach den Fotoporträts zu schließen – vor allem denen Mathew Bradys – wusste er das genau. Eine solche Mischung aus Entsetzen und Intelligenz erkennt man selten bei einem Soldaten; preußisch erzogene Generäle pflegen kaltblütige bis stumpfsinnige Entschlossenheit zu demonstrieren.

Als Romanleser mit einem solchen Militär in Berührung zu kommen erzeugt umso mehr Spannung, als Shermans Armee einen Krieg gewonnen hat, den man zu den guten rechnen muss, wie die Kriege des revolutionären Frankreich gegen das reaktionäre Resteuropa oder den alliierten Krieg gegen Hitler-Deutschland oder den vietnamesischen Befreiungskrieg. Shermans Siege waren Abraham Lincolns Siege, die Siege des bürgerlich-demokratischen Nordens über die Aristokratie der amerikanischen Südstaaten. Wer möchte für die Spaltung der USA durch eine Sklavenhaltergesellschaft Partei ergreifen? Gleichwohl, „war is cruelty, and you cannot refine it“, wie Sherman an die Bürger von Atlanta schrieb, ehe er ihre Stadt verbrannte.

Er errang den Endsieg in einem berühmten Marsch durch die beiden Carolinas und durch Georgia, und E. L. Doctorow, ein versierter Erzähler amerikanischer Stoffe – das Volk der Leser schätzt „Ragtime“ und „Billy Bathgate“ – hat aus Shermans Marsch durch drei rebellische Südstaaten seinen neuesten Roman gemacht.

Das Schema kommt der Erzählkunst aufs glücklichste entgegen. Ein riesiges Kollektiv bewegt sich durch Städte und Landschaften, durch stille und heftige Szenarien, wobei die kriegerischen Handlungen wie zufällig, meist unerwartet hereinbrechen. Diese Dramaturgie hat Leo Tolstoi in seinem Monumentalroman „Krieg und Frieden“ erfunden und erkenntnistheoretisch überbaut; kein an einem Krieg Teilnehmender hat den Überblick, kennt den Ausgang, weiß die Verteilung von Sieg und Niederlage voraus – insofern bildet der Krieg das Modell aller anderen historischen Großereignisse. Auch Doctorows Held Sherman handelt opportunistisch; was im Nachhinein als Masterplan erscheint, setzt sich aus vielen intelligenten Einschätzungen des Zufalls und der Gelegenheit zusammen.

Und dann bewegen sich in diesem Menschenstrom ganz andere Figuren mit, die sich sonst nie begegnet wären. Vornehme Flüchtlinge, die ihre Landsitze und Stadtvillen verlassen mussten. Der Stabsarzt Wrede Sartorius, der in Göttingen studiert hat und aus den vielen blutigen und sinnlosen Operationen an Verwundeten wenigstens Gewinn für seine Disziplin ziehen will, ein so kalter wie leidenschaftlicher Mann. Doctorow gewährt ihm eine Audienz bei Abraham Lincoln und verwendet viel erzählerische Liebe auf den großen Mann, dessen Schwermut unauffällig die historische Lage widerspiegelt.

Ins Kriegsgeschehen eingebaut sind die Berichterstatter, der Korrespondent der Londoner Times, dem solche Soldaten, die politisch-moralische Debatten führen, aus Europa ganz unbekannt sind; der Fotograf mit der fahrbaren Dunkelkammer und der schwarzen Hilfskraft, die nach seinem Tod Karren und Geschäft übernimmt. Ihm hat sich ein junger Mann beigesellt, den Doctorow in verschiedenen Varianten vorführt, als Schlachtenbummler und Bohemien. Der Krieg zwischen den Nord- und den Südstaaten der USA war – neben dem Krimkrieg – der erste fotografisch dokumentierte Krieg; von Bradys berühmtem Porträt Abraham Lincolns behauptete dieser, es habe ihm die zweite Präsidentschaft gewonnen.

Doctorow hat seinen Tolstoi studiert – insbesondere im Hinblick auf die Grundkonstruktion, ein turbulentes Kollektivgeschehen, das kein Teilnehmer überschaut. Der versierte Erzähler Doctorow erspart uns allerdings viel von dem Reflexionsdampf, der Tolstois Roman so aufbläht. Wie er die vielen Personen und Ereignisse zeichnet, die das Romangeschehen tragen, das imponiert durch vorbildliche Ökonomie. Klar, man könnte alles noch viel dichter und größer ausmalen. Aber warum? Der Krieg ist vorbei.

Solide Autorenarbeit, solide Lektüre. Neulich verglich ein Gastrokritiker irgend so ein gepünzeltes Cuisine-Düddeldü mit der Musik von Arnold Schönberg. Stattdessen aß ich in einem (ex-) jugoslawischen Restaurant Schweineschnitzel Wiener Art mit Pfifferlingen und Bratkartoffeln. Tiefe Zufriedenheit.

E. L. Doctorow: „Der Marsch“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2007, 416 Seiten, 22,90 Euro