WOLFGANG GAST LEUCHTEN DER MENSCHHEIT
: Gute Zäune machen gute Nachbarn

Sie war die größte Wandzeitung der Welt, wenigstens auf ihrer Westseite. „Durch Leiden lernen“ war einer der ersten Sprüche, den Unbekannte Mitte der 60er Jahre in riesigen Lettern am Potsdamer Platz an die Berliner Mauer malten. Und vielleicht war das Graffito sogar eines der sinnigeren. Schließlich pinselten die Menschen allerlei krudes Zeug bis Ende der 80er Jahre auf den grauen Beton.

Eine erste Bestandsaufnahme nahm der Regisseur Ronald Steckel schon zwischen Juni und August 1983 vor. Er sammelte weit über tausend Sätze, Worte, Aufrufe. Er verarbeitete sie dann zusammen mit dem Kabarettisten Wolfgang Neuss zu einem Hörspiel, das erstmals im September 1984 vom Sender Freies [sic!] Berlin ausgestrahlt wurde.

Neuss hatte schon recht, als er seinem Hörspielautor während der Produktion zuraunzte: „Weißt du, was wir hier machen? Wir machen uns zur städtischen Seelenmüllabfuhr!“ Zur notwendigen Abfuhr hat das Kellerkind Neuss kräftig beigetragen. Beispielsweise mit seiner Devise: „Auf deutschem Boden darf nie wieder ein Joint ausgehen.“ Die wurde auch auf die Mauer gesprüht und war origineller als so manche der anderen Parolen (vulgär: „Kein Schwanz ist so hart wie das Leben“, ganz öde: „Da wo mein Müsli dampft, bin ich ganz unverkrampft“, oder doppeldeutig-hinterhältig: „Gute Zäune machen gute Nachbarn“). Sätze, die heute wie aus der Zeit gefallen erscheinen (gilt ganz besonders für „Freiheit für Horst Mahler“). Dem Sender RBB ist es zu verdanken, dass die Slogans der Punks, der Kleinbürger und der Alltagsdichter nicht verloren gegangen sind. Die Anstalt hat das Hörspiel jetzt als Hörbuch aufgelegt – und der letzte von Wolfgang Neuss darin vorgetragene Spruch trifft es: „Wirklich alles ein bisschen verwirrend“.

Der Autor ist taz-Redakteur. Foto: privat