IM SPÄTI
: Pass auf dich auf

Ich war spät, zu spät. Spät, weil ich morgen früh sehr früh aufstehen musste und mich schon wieder mit verquollenen Augen zur Arbeit taumeln sah. Zu spät, weil ich um genau zwei Minuten die sonst so trödelnde Tram verpasst hatte. Was tun? Sich ärgern, warten, nach Hause laufen, Späti, … Späti! Wenig später stand ich schon im Späti. Ich war gerade dabei, mir ein Astra zu angeln, als eine bekannte Stimme meinen Namen rief. Verblüfft schaute ich zur Kasse: Der Kioskverkäufer war Frank, ein Freund aus der Uni. Schnell huschte ich zu ihm hinter die Theke, um mir das Späti-Spektakel mal von der anderen Seite aus anzuschauen.

Zuerst ein Mann. Er war ungefähr Mitte 50, trug graue schulterlange Haare, eine bunte Radlerhose und starrte misstrauisch minutenlang das Bierflaschen-Sortiment an. Dann nahm er behutsam Flasche für Flasche aus dem Regal, betastete jede winzigste Wölbung und jedes einzelne Etikett, schnupperte im Anschluss am Deckel und stellte sie dann wieder in Reih und Glied ins Regal. Dann blieb er doch dem Späti-Kassenschlager treu: Er zog das Sterni raus, gab uns 80 Cent, schnalzte gekonnt den Deckel ab und verließ glucksend den Laden.

Dann eine Frau. Sie war circa um die 40, trug einen lockigen Pferdeschwanz, ein langes Hippie-Kleid und lief zielstrebig in Richtung Kasse. Dort angekommen, ließ sie sich alle Drehtabak-Marken inklusive ihrer Preise von dem von Päckchen zu Päckchen immer grimmiger blickenden Frank vorstellen und sagte: „Du bist neu hier, pass auf dich auf.“ Dann zog sie aus ihrer Tasche eine Rose und gab sie mir. Verwundert und gleichzeitig überwältigt schaute ich zu Frank, doch er schien weder vom Deckel-Geschnupper noch vom Rosenduft überrascht zu sein.

EVA MÜLLER-FOELL