Verrohte Sitten

CHAOS Die türkischen Fans tragen bei der EM-Quali einen internen Zwist aus. Fenerbahce-Torhüter Volkan Demirel flieht vor den Galatasaray-Fans

Volkan Demirel zog nach dem Aufwärmen seine Handschuhe aus, verließ mit abwertenden Gesten Richtung Kurve den Platz und kurz darauf das Stadion. Im Tor der türkischen Nationalmannschaft beim 3:1-Sieg gegen Kasachstan stand am Sonntagabend statt Volkan Demirel Volkan Babacan.

Ein Torwart, der nicht spielen will, weil ihn das eigene Publikum schon vor dem Anpfiff fertigmacht? Im türkischen Fußball ist das nur eine weitere bizarre Anekdote. Was sich vor und nach dem ersten Sieg der Türken in der EM-Qualifikation abgespielt hat, zeigt nur, wie verroht die Sitten im Fußball der Türkei sind. Eine halbe Stunde war Volkan während des Warmmachens beleidigt und ausgepfiffen worden. Es stand zwar ein Länderspiel an, aber hier trugen Anhänger von Galatasaray Istanbul in ihrem Stadion ihre Fehde mit dem Torwart des verhassten Stadtrivalen Fenerbahce aus.

Volkan gilt als besonders treuer Gefolgsmann von Aziz Yildirim, dem Präsidenten von Fenerbahce. 2011 hatte Fenerbahce den Meistertitel erkauft, unter dem Manipulationsskandal leidet der Fußball am Bosporus bis heute. Yildirim ist wegen der „Bildung und Leitung einer kriminellen Bande“ von der obersten Instanz zu sechs Jahren und drei Monaten Haft verurteilt worden – und dennoch wegen juristischer Winkelzüge der Politik noch immer auf freiem Fuß. Spiele zwischen den Erzrivalen Galatasaray und Fenerbahce finden in einer vergifteten Atmosphäre statt. Im Supercup-Finale vor dieser Saison gewann Fenerbahce im Elfmeterschießen gegen Galatasaray. Torwart Volkan drehte sich nach jedem gehaltenen Elfmeter zu den Galatasaray-Fans und griff sich ins Gemächt. Nachdem er einen Elfmeter von Felipe Melo gehalten hatte, sprang Volkan Melo an und versuchte diesen anzugreifen. Später erklärte Volkan: „Die Stadtverwaltung sollte die unnötigen Straßenhunde vergiften. Ansonsten entsteht ein nicht anzunehmender Zustand, und ich müsste die Sache übernehmen.“

Doch Volkan hatte Sonntagnacht noch einmal einen Auftritt. Er war nämlich von Trainer Fatih Terim zurückbeordert worden, nachdem klar war, dass er die Arena laut Uefa-Regeln gar nicht hätte verlassen dürfen. Als er dann im Auto mit dem verletzten Nationalelfkapitän Emre Belözoglu am Steuer und einem Fenerbahce-Offiziellen auf dem Beifahrersitz das Stadion endgültig verlassen wollte, kam es zu dem, was die türkischen Zeitungen als „Schande“ bezeichneten. Kamerateams, Reporter und Fotografen warteten auf Volkan, das Auto musste stoppen, es kam zu einem Tumult, der in eine wilde Schlägerei ausartete. Selbst nachdem das Auto weggefahren war, prügelten Menschen auf Journalisten ein. Einem auf den Boden liegenden Mann wurde an den Kopf getreten. All das ist auf einem Video und auf vielen Bildern zu sehen. Drei der Schläger wurden als Sicherheitskräfte von Fenerbahce Istanbul identifiziert. Nun werden wieder die üblichen Schuldzuweisungen hin und her geschoben.

Der türkische Fußball ist ein Trauerspiel. Es regiert der blanke Hass. Ohne eine personelle Erneuerung und einen Mentalitätswechsel ist der Niedergang nicht mehr aufzuhalten. Der türkische Fußballverband bestreitet bis heute, dass 2011 Manipulationen stattgefunden haben, und hat Fenerbahce den Meistertitel damals nicht aberkannt. Die liberalen Kräfte aber glauben längst nicht mehr an eine Selbstreinigung, auch die Politik mischt sich immer wieder in die Belange des türkischen Fußballs ein.

Der ewige Nationaltrainer Fatih Terim erklärte nach diesem erneut blamablen Abend vor nur 20.000 Zuschauern, Volkan sei moralisch nicht in der Lage gewesen zu spielen. Er werde das Gespräch mit dem Torwart suchen und dann sehen, wie es weitergehe. TOBIAS SCHÄCHTER