bücher aus den charts
: Pascal Mercier: Hysterisches Edelmenschentum

Eine von Freuds bleibenden Einsichten ist, dass Romane – im Schreiben wie im Lesen – mit dem Tagträumen verwandt sind. Es entsteht bei jedem Buch als scharfes Problem, das sogleich nach Lösung verlangt, ob man den Tagtraum teilt oder nicht. Im positiven Fall entstehen süße Gefühle; im negativen eines quälender Peinlichkeit. Der Leser schämt sich stellvertretend, dass da einer ungehemmt seine Tagträume veröffentlicht.

Lea ist acht, als sie – eben starb ihre Mutter – eine Straßenmusikerin mit einem Bach-Stück verzaubert und zur Geigerin beruft. Vater kauft ihr ein Instrument, und sie scheint es sofort magisch zu beherrschen, was jedem, der sich mal mit einem Streichinstrument versucht hat, den Tagtraum anzeigt. Zur Macht der Musik, wie sie der Tagtraum malt, gehört außerdem, dass sie nur erlangt, wer sich aufs Qualvollste einem Meister und seiner Disziplin unterwirft. Marie Pasteur trägt lange Batikkleider – oft scheint Pascal Mercier unklar, was man unter „Batik“ versteht, klingt halt irgendwie gut –, in ihrer ebenso kargen wie eleganten Wohnung läuft sie in weichen Lederschuhen herum, und wenn sie besonders hingegeben lauscht, fällt ihr schon mal eine Strähne des aschblonden Haares in die Stirn.

Ja, ganz grässlich. Für den, dessen Tagträume mit dem Roman inkompatibel sind. Leas zweiter, todbringender Lehrer heißt David Lévy, Silberhaar, stets ultrateuer gekleidet, einst der bedeutendste Geiger der Schweiz, bis ihn eine mysteriöse Blockade befiel, die ihn die Karriere abbrechen und Musiklehrer werden ließ. Seitdem vom Geheimnis und seiner Macht dicht umhüllt. Richtig, Sie haben’s erraten, Lea wird, dem Streben nach Perfektion religiös hingegeben, eines Tages selbst dieser Blockade unterliegen, was sie in den Tod führt; wer einst Genie war, kann unmöglich als Normalbürger weiterleben. Eingewoben in dies Geflecht edelster Menschen, edelster Motive, edelster Berufspraxis – was sind Chirurgie oder Teilchenphysik gegen die Herrlichkeit der Musik? –, hat Pascal Mercier teuerste Geigen, Stradivari, Guarneri, Sie wissen schon. Ob er da Fachstudien treiben musste oder ob Wikipedia ausreicht, habe ich nicht überprüft.

Leas tragischen Künstlerroman erzählt Leas Vater, der Physiker, dem Erzähler, Chirurg, auf einer längeren Autofahrt aus der Provence in die Schweiz. Hier gewinnen Männer als Helden des Tagtraums ihre eigene Kontur, sensible Männer, denen ihre Verfehlungen in puncto Frauen und Kinder immer noch Schmerzen verursachen. Als die kleine Lea bei einer Schulaufführung patzt und in einen Abgrund von Enttäuschung versinkt, versucht ihr Vater sie an Verzweiflung noch zu übertreffen. Der Roman – es soll sich um eine Novelle handeln – entwickelt eine Idealkonkurrenz der Klagen und Schmerzen ebenso im Hinblick auf künstlerische Perfektion wie auf seelische Empfindsamkeit. Wer draußen bleibt, muss sich als ignoranten Bofke erkennen. Was Vergnügen bereitet. David Lévy?, höhnt mein alter Freund Theckel. Warum nicht Lévy Davide? Wäre noch fetter.

Jene Straßenmusikerin, mit der alles anfing, heißt Loyola de Colón, eine Bedeutsamkeitsbombe, die Pascal Mercier, Pseudonym des Berliner Philosophieprofessors Peter Bieri, zu zünden versäumt. Überhaupt wirkt manches unausgearbeitet; deshalb soll der Roman vielleicht bloß Novelle heißen. Leas Vater, der Physiker, ein großer, schwerer Trinker namens Martijn van Vliet, jaja, erinnert den Erzähler Adrian Herzog immer mal wieder an die Filmschauspieler Tom Courtenay respektive Jean-Louis Trintignant, rechte Spuchtfinken. Hätte gestrichen werden können. Wenig Kontur gewinnt der Erzähler, der Chirurg Adrian Herzog, hier fehlt ein ganzer Erzählstrang. Die Passagen um ihn bleiben non finito – wie ein Kunsthistoriker aus dem Kreis dieser hysterischen Edelmenschen vornehm sagen würde. MICHAEL RUTSCHKY

Pascal Mercier: „Lea“. Novelle. München, Hanser 2007, 256 Seiten, 19,90 Euro