Der erste Frieden

Mit einer einmotorigen Stearman flog der Pilot, Playboy und Restaurantbesitzer Abie Nathan 1966 nach Ägypten. Er wollte mit Gamal Abdel-Nasser sprechen. Die Geschichte eines Nationalhelden aus Israels Sixties

VON TOM SEGEV

Mitte der Sechzigerjahre war der Staat Israel eine der beeindruckendsten Erfolgsgeschichten des zwanzigsten Jahrhunderts. Viele saugten eifrig den fortschrittlichen Geist der Jahre auf. Jeder vierte Neuwagen auf der Dizengoff, der Straße im Herzen Tel Avivs, wurde in Israel gebaut. Die Modelle trugen hebräische Namen – Carmel, Gilboa, Sussita –, und es gab sogar den Sabra, einen auffälligen Sportwagen. Der Botschafter der Vereinigten Staaten nannte die Autoindustrie „eines der Wunder Israels“. Zwar war dem Industriezweig keine Zukunft beschieden, aber solange er sich hielt, war er ein weiterer Ausdruck des israelischen Traums, der in Tel Aviv, der „ersten hebräischen Stadt“, seinen Anfang genommen hatte.

Die Dizengoff war mehr als eine Straße: Sie war ein kulturelles und gesellschaftliches Ideal, das die hebräische Sprache sogar um ein Verb bereicherte, das von der Zeitung Haolam Haseh geprägt wurde: „dizengoffen“, ausgehen.

Auf den Bürgersteigen wimmelte es nur so vor Cafétischen, an denen Schriftsteller und Dichter, Journalisten, Schauspieler und andere Doyens der einheimischen Kultur ihren Geschäften nachgingen. Das kulturelle Treiben Israels spielt sich hier ab. Theater und Konzertsäle, Museen und Zeitungen – sie alle waren hier. Hier wurden die neuesten Filme gezeigt und subversive Ideen in Umlauf gesetzt.

Im Café Ravel konnte man junge Frauen und gvarvarim betrachten – eine weitere Wortschöpfung von Haolam Haseh, die sich auf junge Männer bezog, die herumprahlten, als wären sie doppelt so alt. Im Kultcafé Kassit wurde derweil über umstürzlerische Ideen diskutiert. Hier unterschrieben der Journalist Amos Kenan und der Bildhauer Jigal Tumarkin einen Brief an Ministerpräsident Eschkol, in dem sie ihm mitteilten, dass sie beschlossen hatten, gegen das Gesetz zu verstoßen und jene nichtöffentlichen Gebiete zu betreten, die unter Militärherrschaft standen. Sie wollten sich so mit dem Kampf der israelischen Araber identifizieren, die seit 1948 den verschiedensten Einschränkungen unterlagen.

Unweit des Kassit lag ein Speiselokal, dessen Besitzer alle nur Abie nannten. Das bei Politikern und Generälen sehr beliebte Restaurant hieß California und bot die ersten israelischen Hamburger an. Abie Nathan war allseits beliebt, und zwar zu Recht, denn er strebte danach, Gutes zu tun. Die meisten Menschen nahmen ihn indes nicht ernst – ebenfalls mit gutem Grund. Sie mochten ihn, weil er naiv war und nicht erwachsen werden wollte. Der aus dem Iran stammende Abie war der Sohn eines wohlhabenden Textilkaufmanns, der die jüdischen Bräuche beachtete und zu Hause Englisch sprach.

Nach dem Schulabschluss konnte Abie sich nicht entscheiden, ob er Anwalt oder Schauspieler werden sollte. Am Ende beschloss er, Pilot zu werden, und trat in die indische Luftwaffe ein. Nach dem Umzug nach Israel wurde er 1948 einer der ersten Piloten in der israelischen Luftwaffe und bombardierte im Unabhängigkeitskrieg mehrere arabische Dörfer. Als er einmal die Ruinen des Dorfes Sa’asa im Norden Israels besichtigte, fand er den Ort verlassen und die meisten Häuser zerstört vor. Unter den Ruinen entdeckte Abie verbrannte Leichen. „Ich stürzte in eine tiefe Depression“, erzählte er später. „Ich machte mir immer mehr Gedanken darüber, was der Krieg den Menschen antut.“ Er nahm auch an dem Luftangriff auf den „Kessel von Falludscha“ teil, eine ägyptische Festung in der Nähe des Kibbuz Negba im Süden Israels. Unter den ägyptischen Offizieren, die den Angriff überlebten, war Gamal Abdel-Nasser, der spätere Präsident von Ägypten.

Nach dem Krieg bekam Abie zunächst eine Stelle als Pilot bei der israelischen Fluggesellschaft El Al, ehe er das California eröffnete. Der stattliche Mann, der überall seinen Charme spielen ließ, heiratete, bekam eine Tochter, ließ sich scheiden und pflegte sein Image als romantischer Playboy, wohlhabend und großzügig, der an eine bessere Welt glaubte. Häufig spendete er für wohltätige Zwecke. Abie war ein neuer Heldentypus, der sich von Yechiam Weitz vollkommen unterschied. Hier der aus Jerusalem hervorgegangene Krieger, der das Nationalepos verkörperte, dort die liebenswerte Tel Aviver Berühmtheit, die das gute Leben symbolisierte.

Irgendwann in den Jahren dazwischen hatte sich Israel verändert und war zu einem Land geworden, das sich von der Vision seiner Gründer deutlich entfernt hatte. Anfang der Sechzigerjahre hatte die israelische Luftwaffe den Slogan „Die Besten gehen zur Luftwaffe“ geprägt. Der Slogan war umstritten, schlug aber ein. Und als Pilot hatte sich Abie einen Platz unter „den Besten“ verdient. Im Gegensatz zu der Arbeitsmoral der ersten Zionisten, der von ihnen geschaffenen sozialistischen Wirtschaft und der von ihnen geförderten nationalen Ideologie – die den Landwirt im Kibbuz glorifizierte und den städtischen Unternehmer schmähte – tauchte Abie als einer der ersten Vertreter einer amerikanischen Kultur auf, die in allmählich in Israel Einzug hielt.

Der von bezaubernden Frauen umgebene Abie war ein tollkühner Mann, der sich von den Fesseln gesellschaftlicher Normen frei machte, obwohl er nie ein echter Revolutionär war. Als 40-jähriges Kind hatte er außerdem den eigentlichen Sinn des Lebens entdeckt: Frieden schließen. Seine Freunde überredeten ihn, für die Knesset-Wahlen vom November 1965 zu kandidieren. Abie versprach seinen Wählern, nach Ägypten zu fliegen, um mit Nasser Friedensgespräche zu führen.

In Israel werden Parteien auf dem Wahlzettel durch zwei oder drei hebräische Schriftzeichen dargestellt. Abies Zeichen waren nun-samech, die zusammen das hebräische Wort für „Wunder“ ergeben. Er erhielt nur 2.135 Stimmen, aber seiner Beliebtheit tat das keinen Abbruch. Im Gegenteil: Sein politisches Scheitern verstärkte noch sein Image, zu den Besten zu zählen. Abie träumte immer noch davon, mit Nasser zu sprechen, auch wenn er niemals verriet und vermutlich auch nicht wusste, was er denn dem ägyptischen Präsidenten bei dem Treffen sagen wollte – als hätte schon das Treffen als solches die Kraft, den Gang der Geschichte zu beeinflussen. Er warb häufig für die Idee und bat prominente Persönlichkeiten weltweit um Unterstützung.

Es lässt sich kaum sagen, wann genau aus dieser typischen Dizengoff-Idee ein konkretes Projekt wurde. Abie redete so viel darüber, dass schließlich seine Integrität auf dem Spiel stand. Im Februar 1966 rief er in einer Anzeige dazu auf, eine Petition zu seiner Unterstützung zu unterschreiben. Viele Israelis kamen der Bitte nach, weil sie sich von Abies Versprechen anstecken ließen, mit einem Abstecher über die Grenzen des kleinen Israel in die Sphären des Friedens vorzustoßen. Die massive Unterstützung bestärkte Abie in seinem Eifer. Als die Zuschriften die Hunderttausender-Marke erreicht hatten, beschloss er, nun sei es an der Zeit zu handeln.

Am Morgen des 28. Februar 1966 wurde Abie vom Telefon geweckt. Zwi Elgat, ein Reporter von Ma’ariv, war am Apparat. Eine Stunde später kam Elgat vorbei, um Abie zu dem kleinen Flugplatz in Herzlija zu fahren, wie sie es am Abend zuvor an der Bar des California verabredet hatten. Unterwegs holten sie noch den Fotografen der Zeitung ab. Dem Flugplatzpersonal sagten sie, dass Abie gekommen sei, um ein Bild von sich neben dem Flugzeug zu machen, das er von einer Düngemittelfirma gemietet habe. Es war eine einmotorige Stearman aus dem Jahr 1927, Abies Geburtsjahr, mit offenem Pilotensitz. Auf Hebräisch, Englisch und Arabisch war der Name „Peace 1“ auf das weiße Flugzeug gepinselt. Abie setzte sich in Fliegermontur an den Steuerknüppel, schaute direkt in die Kamera und startete plötzlich den Motor.

Eine Sekunde, vielleicht einen endlosen Moment lang, stand mir das Herz still“, schrieb Elgat am nächsten Tag. „Ich hatte das Gefühl, dass das Ganze am Ende vielleicht nur ein Traum war. Ich ging zu ihm und rief. Meine Stimme wurde von dem Propeller übertönt. Ich trat näher. ‚Abie, willst du fliegen?‘ Er nickte. Ich wusste es. Ich konnte stolz auf ihn sein. Abie hatte es geschafft! Ich werde nie erfahren, wer aufgeregter war – Abie oder ich selbst. Ich weiß nur, dass ich noch Zeit hatte, ihn zu fragen: ‚Abie, hast du Angst?‘ Er war blass, hatte den Pilotenhelm aufgesetzt, und er signalisierte ein einziges Wort: ‚Nein!‘ Dann hob er ab. Einen Moment lang wollte ich es nicht glauben.“

Elgat war als einziger Reporter dabei, doch als die Exklusivstory erschien, war von einer amerikanischen Nachrichtenagentur in Kairo bereits die Meldung eingetroffen, dass das Flugzeug abgestürzt und Abie Nathan tot sei. Der beliebte Restaurantbesitzer wurde schlagartig zum Nationalhelden. „Ich werde jeden verklagen, der sagt, dieser Mann sei nichts als ein Selbstdarsteller gewesen“, schwor Elgat.

Die Meldung von Abies Tod stürzte das ganze Land in Trauer. Die Tageszeitungen Ma’ariv und Jediot Aharonot brachten Sonderausgaben, Rundfunksender unterbrachen ihr Programm. Scharen von Menschen versammelten sich vor dem California, viele weinten, als hätten sie einen Freund und eine Hoffnung verloren. Seine engsten Freunde, zum großen Teil Künstler und Medienleute, drängten sich im Restaurant und unterhielten sich im Flüsterton. Plötzlich erhob einer von ihnen, der Besitzer einer Galerie, seine Stimme: „Ich bin sein bester Freund, aber ich habe die Petition nicht unterschrieben. Niemand hätte sie unterschreiben dürfen. Ihr habt ihn nach Ägypten in den Tod geschickt. Ihr habt ihn umgebracht!“ Es herrschte eine schreckliche, bedrückende Stille. Und dann drängte sich der Songschreiber Chaim Hefer durch die Menge und rief: „Er lebt! Er lebt!“ Eben hatte man es im Radio bekanntgegeben. Der Nachrichtenagentur Associated Press, die ursprünglich seinen Tod gemeldet hatte, war ein Fehler unterlaufen. Nach dem Start hatte Abie die Maschine scharf in Richtung Mittelmeer gedreht und war so tief geflogen, wie er konnte, um dem Radar der israelischen Luftwaffe auszuweichen. Als er über Tel Aviv flog, berührte er fast die Dächer; über dem Meer spritzte ihm die Gischt ins Gesicht. Die Luftwaffe spürte ihn aber trotzdem auf und sandte Flugzeuge aus, die ihn zurückholen sollten, doch er weigerte sich und flog einfach weiter. Und dann verloren sie ihn.

Abie hatte weder ein Funkgerät noch genügend Treibstoff, um Kairo zu erreichen. Er kam bis nach Port Said, einer Hafenstadt an der nördlichen Mündung des Suezkanals, wo er sicher landete, sich dem verblüfften Flughafenpersonal vorstellte und darum bat, zu Nasser gebracht zu werden. Die Ägypter krümmten ihm kein Haar. Sie brachten ihn zum zuständigen Provinzgouverneur, bewirteten ihn reichlich und erlaubten, dass er über Nacht blieb. Ja, sie fuhren ihn sogar in die Stadt, damit er sich einen Pyjama kaufen konnte. Dann brachten sie ihn zum Flugplatz zurück. Am Abend spielte er mit den Wachen Karten und gewann. Am nächsten Tag schickten sie ihn wieder nach Hause.

Die Menschen im Restaurant umarmten und küssten sich, als die Meldung, dass er noch am Leben war, eintraf. Tränen der Freude vermischten sich mit Sekt. Auf dem Bürgersteig sprach jemand ein Dankgebet. Die Nachricht machte rasch die Runde, und es gingen Meldungen von spontanen Feierlichkeiten im ganzen Land ein. Soldaten in Kirjat Gat kauften eine Flasche Cognac und forderten Passanten auf, auf Abies Wohl zu trinken. Am nächsten Tag strömten tausende von Menschen zum Flugplatz, um ihn zu begrüßen, und die Rollbahn musste geräumt werden, damit er landen konnte. Seine Anhänger erdrückten ihn fast. Es war ein entschieden israelischer Moment: Nichts war charakteristischer für die Israelis als dieser plötzliche Wechsel von lähmender Depression zu überschäumender Freude, von tiefer Verzweiflung zum Jubel über die Rettung.

TOM SEGEV, geboren 1945 in Jerusalem ist Historiker, Journalist und Buchautor. Der Text ist ein Auszug aus seinem im Mai erschienenen Buch: „1967. Israels zweite Geburt“, Siedler Verlag, (800 S., 28 Euro). Am 11. Juni hält Segev um 20 Uhr einen Vortrag im Jüdischen Museum Berlin und am 12. Juni um 19 Uhr im Jüdischen Museum München