Zwischen Kontrolle und Kasino

BETRUGSSKANDAL Kika-Herstellungsleiter Marco K. hat Millionen vom Budget des Senders abgezweigt. Vor Gericht gesteht er am ersten Prozesstag – spricht über Versagensangst, Überforderung und Spielsucht

 Darum geht es: Dem Kika-Herstellungsleiter Marco K. wird vorgeworfen, von 2002 bis 2010 4,6 Millionen Euro für sich abgezweigt zu haben. Am ersten Prozesstag gestand der Angeklagte die Tat. Der MDR beziffert den Gesamtschaden in einem Bericht auf 8,2 Millionen Euro.

 Die Konsequenzen: MDR-Verwaltungsdirektor Holger Tanhäuser stellte im März sein Amt zur Verfügung – allerdings ohne ein Schuldeingeständnis. MDR-Intendant Udo Reiter kündigte Ende Mai überraschend an, in den Ruhestand zu gehen, begründete das aber mit gesundheitlichen Problemen.

VON STEFFEN GRIMBERG

Zur Mittagspause werden Marco K. Handschellen angelegt, bevor er den Gerichtssaal verlässt. Das sei so üblich in Thüringen, sagt eine Erfurter Kollegin, auch wenn es in diesem Fall reichlich überflüssig ist. Denn der ehemalige Herstellungsleiter des Kinderkanals (Kika) hat da längst ein umfassendes Geständnis abgelegt, bis zum Punkt „achtundvierzigstens“ kam der Staatsanwalt beim Verlesen der Anklage. Es geht um Bestechlichkeit und Untreue, um den größten Betrugsskandal im öffentlich-rechtlichen Rundfunk – und um ein Leben.

Dieses Leben kreiste in den vergangenen Jahren nur noch um zwei Konstanten – den Kika und das Kasino. Sein „Baby“ nennt der 44-jährige K. den von ihm seit 1996 mit aufgebauten Kinderkanal von ARD und ZDF gleich mehrfach an diesem ersten Verhandlungstag im Schwurgerichtssaal des Erfurter Landgerichts.

Als Herstellungsleiter war er das Rückgrat des Senders, kannte alle Mitarbeiter und Abläufe – doch seine Gewohnheiten kannte angeblich niemand. Sein Privatleben habe er fast nur noch in Spielbanken verbracht, auch um den Frust über die immer angespanntere Atmosphäre beim Sender loszuwerden, sagt er. Von seiner Spielsucht und den dramatischen Verlusten etwas mitbekommen habe aber keiner.

Über 8 Millionen Euro hat K. über Jahre aus dem alles andere als üppigen Kika-Budget abgezweigt, mit Hilfe von Scheinrechnungen an Produktionsfirmen, für Leistungen, die es nur auf dem Papier gab. Von diesem Geld flossen im Mittel 57,5 Prozent an ihn zurück, hat die Staatsanwaltschaft penibel nachgerechnet. Der Rest blieb bei der Produktionsfirma, meist der Berliner Kopp-Film GmbH, deren Geschäftsführer per Selbstanzeige im Dezember den Stein ins Rollen brachte.

Ohne diese Anzeige würde das System Kika wohl noch genauso funktionieren – obwohl es laut K. immer auf der Kippe stand: „Niemand stellte die Frage, ob die berechneten Leistungen wirklich erbracht wurden“, sagt K., „eine solche Nachfrage hätte meine Vorgehensweise sofort beendet“. Doch der MDR, dem die Aufsicht über den kleinen Kanal obliegt, kontrollierte wenig und stellte schon gar keine kritischen Fragen.

Das Geld habe er umgehend ins Kasino getragen, sagt der Herstellungsleiter, mehrfach die Woche, ab Mitte der Neunziger in Berlin, „in Erfurt gab es zu diesem Zeitpunkt noch keine Spielbank“. Schon damals habe er viel gearbeitet, 12-Stunden-Schichten waren die Regel. Als 2005 dann das Erfurter Kasino aufmachte, „gab es kein Halten mehr“. Und dann erzählt K. mit leicht rötlichem Gesicht von der Lust, der Anspannung, die ihn überkam, vom Bangen darum, ob „sein“ Lieblingsspielautomat noch frei sei. Über diesen Daddelkasten namens „Lucky Lady“ spricht er fast so wie über den Kika – liebevoll und gleichzeitig ziemlich frustriert. Im Sender sei das Klima immer angespannter geworden, er habe es allen recht machen müssen, aber de facto immer weniger zu sagen gehabt, sagt K.

Doch belasten will er seine früheren Mitarbeiter nicht, weder die ihm Untergebenen in der Herstellungsleitung, die seine Scheinrechnungen als sachlich richtig abzeichneten, noch seine Vorgesetzten wie den heutigen NDR-Programmdirektor Frank Beckmann, der von 2002 bis 2008 als Programmgeschäftsführer des Kika sein direkter Chef war. Nur dass er beim Wechsel von Beckmann nach Hamburg nicht dessen Nachfolger wurde, wurmt ihn sichtlich. Er habe oft überlegt, den Sender zu verlassen – doch er blieb. Im Prozess nennt er sich den „Hausmeister“ des Kika, lächelt dabei verlegen. Zum Trost ging er ins Kasino. Beiden, so viel will K. klar machen, hat er sein Leben gewidmet.

Und durch das ziehen sich schon früh Versagensangst und Überforderung – wenn man dem Bild glaubt, das K. von sich zeichnet: Die Eltern waren noch Teenager, als er 1967 bei Magdeburg zur Welt kommt; sie trennen sich, als er noch ein Baby ist. Erst mit 16 wird ihm klar, dass der Mann, den er für seinen leiblichen Vater hält, nur sein Stiefvater war. Da ist er auf einem Sportinternat, gilt als begabter Ruderer, wird zweimal DDR-Meister. Doch er wächst nicht im notwendigen Maße, wird „abtrainiert“, es geht ihm bis heute an die Nieren. Genauso habe er sich wieder gefühlt, als der Geschäftsführerjob beim Kika an ihm vorbeiging, sagt K.

Wirklich schlau wird man daraus nicht. Denn der Mann, der da auf der Anklagebank sitzt, ist durchaus smart, reflektiert mit Intellekt seine Situation bis hin zur „Reflexepilepsie“, an der er leidet und weshalb das Geblinke des Automatenspiels für ihn eigentlich Gift ist. Einmal wurde er nach einem schweren Anfall vom Kasino ohnmächtig in die Klinik eingeliefert. Doch auch da schaute noch keiner hinter die Fassade des Workoholics, der es zum Ausgleich krachen ließ und zumindest von seinen Gewinnen auch gern mal Kollegen erzählte. Auf seine Spielsucht sei er sowohl im Kika wie im MDR nie direkt angesprochen worden. Erst jetzt, in der Haft, sei er „zum Denken gekommen“, sagt K. Und dass er hoffe, „nach Verbüßen meiner Strafe eine kleine Chance zur erhalten, in dem eigentlich von mir geliebten Berufsfeld nochmal Fuß zu fassen“.