Liebenswerte Chaoten

LANDKULTUR Von vergessenen Handwerkstechniken bis zur Avantgarde-Kunst, von Ausstellung bis Aktion: Zum 22. Mal öffnen Künstler und Handwerker aus dem Wendland bei der Kulturellen Landpartie an rund 100 „Wunde.r.punkten“ zwei Wochen lang ihre Ateliers, Scheunen, Ställe und Werkstätten

Das größte „Wunder“ ist für die mittlerweile jedes Jahr über 600 Aktiven, die zwischen Himmelfahrt und Pfingsten an rund 100 privaten „Wunde.r.punkten“ zwischen Bülitz und Zeetzer Mühle im Wendland für die „Kulturelle Landpartie“ Ateliers, Ställe, Scheunen und Werkstätten öffnen, immer noch, dass Chaos so liebenswert und zugleich so erfolgreich sein kann. Denn organisiert wird der längst zum überregional bekannten Kunstevent gewordene kollektive Kulturaustausch hier auch nach 22 Jahren immer noch ehrenamtlich, basisdemokratisch – und mitnichten ohne Auseinandersetzungen.

Dafür können die gemeinschafts- und streiterprobten Gorleben-GegnerInnen immer noch auf all das verzichten, was andere Veranstaltungen dieser Größenordnung längst zu brauchen meinen: eine PR-Agentur, öffentliche Zuschüsse und Werbeeinnahmen, einen Geschäftsführer und eine Jury. Alles, was die – realen oder gefühlten – WendländerInnen aus- und sonst noch so auf die Beine stellen, ist: selbst gemacht.

Das erste Mal hat sich ein vom auf den Anti-Atom-Protest beschränkten Ruf der Region genervtes Dutzend von ihnen 1989 vorgenommen, das Wendland nicht nur zum Ort des Aufstands, sondern auch zum Ort des kulturellen Austausches und der friedlichen Begegnung zu machen: „Künstler und Handwerker, politische und ökologische Initiativgruppen, Bewegte und Unentwegte stellen sich und ihr Leben vor – Zwischen Utopie und Alltag, zwischen Auflehnung und Anpassung, Kunst und Kommerz, zwischen Aquarell und Becquerel“, hieß es in der Ankündigung: „Kommt her und schaut uns an! Wir sind die Chaoten, Krawallmacher, Randalierer, Störer und Berufsdemonstranten, die sich den Segnungen der Atomindustrie widersetzen!“

Zu sehen sind in rund 80 Dörfern, im Naturpark oder auf Feldwegen in der Region bei der „Kulturellen Landpartie“ zeitgenössische Avantgarde-Arbeiten ebenso wie längst vergessene Handwerkstechniken und selbstbewusst zur Schau gestellter Dilettantismus, dazwischen gibt es Konzerte, Mitmachzirkus oder Naturführungen. Der Widerstand gegen die atomare Besetzung ist dabei allgegenwärtig: Thema der punkteübergreifenden Kunstaktion „Auf der Strecke bleiben, Harlingen – ein Ortstermin“ ist zum Beispiel die dortige Schienenbesetzung beim letzten Castortransport 2010, wo 1.300 Menschen bei Minusgraden stundenlang im Polizeikessel festgehalten wurden.

Damit die Tour durch die Kulturlandschaft so umweltbewusst wie möglich gelingt, sind Bus, Bahn und Rad an den Wochenenden miteinander vernetzt. Der Fahrplan findet sich im 280 Seiten starken Programmheft ebenso wie Radtourvorschläge.

ROBERT MATTHIES

■ Wendland: Do, 2. 6. bis Mo, 13. 6., kulturelle-landpartie.de