Flucht vor der sozialen Schere

Bin ich ein armes Ostmäuschen oder eine dekadente Kuh? Über meinen Aufenthalt in einem Schweizer Luxushotel

So sehr bin ich noch nie in meinem Leben zwischen die Fronten geraten. Es fehlt nicht viel und ich frage mich ernsthaft, wer ich bin. Ein armer Schlucker oder eine dekadente Kuh. Schuld an meiner momentanen Verwirrung ist eine Schere. Die soziale Schere zwischen oben und unten, arm und reich. Natürlich gab es auch in der DDR Scheren. Doch die waren längst nicht so scharf wie die im Westen und den Begriff der sozialen Schere gab es gar nicht.

Angefangen hat es mit einem Treffen mit einer Journalistin von der Zeit, die mich für einen Artikel über schwindelerregende Managergehälter und Geringverdiener interviewt hat. Im Unterschied zu anderen, die sie gesprochen hat, die auch viel arbeiten und wenig verdienen, aber mit Erbschaften prächtig über die Runden kommen, bin ich ein wirklich armes Würstchen. Hätte mein Vater im Westen 40 Jahre lang als Arzt gearbeitet und nicht im sozialistischen Gesundheitssystem, könnte ich mich entspannt zurücklehnen. Aber so muss ich sehen, nicht allzu sehr zwischen die Klingen der Schere zu geraten.

Die Zeit-Journalistin wollte von mir auch wissen, ob ich neidisch bin auf die, die gut verdienen, oder ob ich mich manchmal ausgeschlossen fühle. Vehement schüttelte ich den Kopf und erzählte, dass ich demnächst in die Schweiz fahre, um ein Wochenende in dem luxuriösen „Victoria Jungfrau Hotel“ in Interlaken zu verbringen. Das Haus, das zu den „Leading Hotels of the World“ gehört, wendet sich an „Gentleman und Sportsman, Businesswoman und Geniesserin, und überhaupt Kenner des guten Geschmacks“. Eine Übernachtung in einer „Duplex Suite“ mit Blick auf das Jungfrau-Massiv kostet so viel, wie ich in einem Monat verdiene. Und ich habe ein Wochenende dort verbracht!

Das habe ich einem Schweizer Freund zu verdanken. Der hat bei seiner Krankenversicherung einen Hauptgewinn gewonnen: fünf Tage und Nächte für zwei Personen in dem Fünf-Sterne-Hotel mit allem Drum und Dran. Weil er ein soziales Gewissen hat, hat er den Gewinn so umgewandelt, dass er zusammen mit neun Freunden einen Tag und eine Nacht dort verbringen kann. Neben fünf Schweizer Freunden und drei Schweizer Freundinnen wählte er mich aus.

Auf dem Flug in die Schweiz am vergangenen Freitag merkte ich, dass ich nicht die Einzige war, die aus der armen deutschen Hauptstadt flüchtete. Der Pilot begrüßte den Regierenden Bürgermeister von Berlin an Bord. Klaus Wowereit war mit seinem Freund auf den Weg in ein geruhsames Wochenende. Als er in Zürich neben mir an der Passkontrolle stand, musste ich mich beherrschen, ihm nicht zu sagen, dass ich eine arme taz-Redakteurin bin, die auf dem Weg in ein Superduperluxushotel ist.

In meiner Suite wurde ich mit Orchideen, Pralinen und einer Botschaft auf dem Flachbildfernseher begrüßt. „Herzlich willkommen Frau Bollwahn im Grand Hotel Victoria Jungfrau. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.“

Beim Abendessen rückte eine Armada von zehn livrierten Kellnern an, um gleichzeitig die silbernen Deckel von unseren Tellern zu heben. Eine Kellnerin war nur damit beschäftigt, unseren Tisch mit diversen Brotsorten zu umrunden. Im Unterschied zu den Schweizern habe ich mich mit Brot vollgestopft. Mir tat die Frau leid, wenn niemand ihre Dienste in Anspruch nahm. Außerdem waren die Portionen zwar von erlesenem Geschmack, aber nicht gerade üppig.

Doch ich will nicht klagen. Nach einem opulenten Frühstück am nächsten Morgen mit Veuve Clicquot genossen wir den letzten Teil des Hauptgewinns und ließen uns im Wellnessbereich verwöhnen. Ich bekam eine „advanced lifting and firming facial“-Behandlung. Mit heißen Steinen, grünem Licht, Ölen, Cremes und Massagen wurden meine Glücks,- Energie- und Gleichgewichtszentren reaktiviert. Darüber vergaß ich für anderthalb Stunden, dass ich nur 688 Euro Rente bekomme, wenn sich an meiner Einkommenssituation nichts ändert. Spätestens morgen, wenn der Artikel in der Zeit erscheint, werde ich wieder wissen, wer ich bin.

BARBARA BOLLWAHN über ROTKÄPPCHEN

Wer bin ich? kolumne@taz.de Morgen: Barbara Dribbusch über GERÜCHTE