Eine Insel mit Müllbergen

Am Wochenende demonstrierten 50.000 Mallorquiner gegen die Folgen des Massentourismus. Es war die größte Kundgebung der Geschichte der Insel – aber gegen wen genau richtete sie sich?

VON ARNO FRANK

50.000 Mallorquiner sollen es gewesen sein, die in der Hauptstadt Palma unter dem Motto „Schluss mit der Zerstörung, lasst uns Mallorca retten“ auf die Straße gingen – Massen also, wie sie in Spanien ansonsten höchstens bei Demonstrationen gegen die ETA zu mobilisieren sind.

Was diese Leute motiviert? Zubetonierte Landschaften an der Küste, offene Müllkippen, Verkehrsinfarkte wie in Mexiko-Stadt, Trinkwasserknappheit wie in der Sahara, Luftverschmutzung wie in China, ein völlig durchgeknallter Immobilienmarkt – so einleuchtend die Gründe für den Frust der Einwohner auch sein mögen, so sehr liegen Sinn, Zweck und Stoßrichtung dieses bisher größten öffentlichen Protestmarschs auch weiterhin im undurchdringlichen Dunkel einer korrupten Kommunalpolitik. Gegen wen oder was richtete sich der Unmut dieser 50.000? Gegen die touristisch bedingte „Überfremdung“ der einheimischen Bevölkerung? Gegen den „Ausverkauf“ der Insel?

Fest steht: Ohne die Invasionen der Römer und Mauren wären die Balearen wohl heute noch nur von Höhlenbewohnern und deren Ziegen bevölkert. Aber keiner der Invasoren hat die Inseln so nachhaltig verändert, wie es dem Deutschen Josef Neckermann gelingen sollte. Verirrten sich 1960 noch gerade mal 360.000 Touristen nach Mallorca, waren es dank der Bemühungen des umtriebigen Reiseunternehmers 1970 schon über zwei Millionen Menschen, die sich auf Francos faschistischen Inseln die Sonne auf den Bauch scheinen ließen. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte die massentouristische Frequentierung Mallorcas im vergangenen Jahr, als sich mehr als 12 Millionen Gäste auf dem kleinen Eiland drängelten.

Sie waren es, die Mallorca schon lange vor dem EU-Beitritt Spaniens einen wirtschaftlichen Boom bescherten, wie er in Europa ohne Beispiel ist. Noch heute übersteigt das Pro-Kopf-Einkommen der vor allem im Tourismus und angegliederten Branchen beschäftigten Bevölkerung das der Festlandspanier um ein Vielfaches. Mit dem wuchernden Wohlstand wuchsen indes auch die Probleme, die dieser Wohlstand immer und überall auf der Welt nach sich zieht. Auch trägt es wohl kaum zur Entspannung der Lage bei, dass beispielsweise deutsche Residenten in deutschen Urbanisationen leben, deutschsprachige Zeitungen lesen, ihre Kinder auf deutsche Schulen schicken, für ein kommunales Wahlrecht streiten und im Krankheitsfall lieber deutsche Ärzte konsultieren, die ihrerseits als Residenten in deutschen Urbanisationen leben …

Migranten sind eben so lange willkommen, bis der Bedarf an Ihresgleichen gedeckt ist und die Migration ein kritisches Maß erreicht hat. Wobei es für den Überfremdeten keine Rolle spielt, ob die Fremden nun dem Wohlstand, der Armut oder einfach nur dem schlechten Wetter entfliehen wollen. Die fatalen Folgen für die Lebensqualität und vielleicht auch das reale Lebensgefühl der Mallorquiner spielen nicht nur einem Schwachkopf wie dem Kolumnisten Matias Vales in die Hände, der die Wirkung des Tourismus mit der einer Neutronenbombe verglich – sondern auch populistischen Politikerinnen und Politikern, die sich heute einer Entwicklung nicht gewachsen zeigen, die sie in der Regel gestern noch selbst befördert haben.

Selbstverständlich sind die Demonstrationen auf Mallorca im Großen und Ganzen nichts weiter als Blähungen einer Wohlstandsgesellschaft. Sie sind aber, im Kleinen, auch Ausdruck eines Unbehagens an den Folgen der Globalisierung – vergleichbar mit den Hartz-IV-Protesten hierzulande, wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen.

Solange also die Wut über die Fehlentwicklung sich gegen den Filz in der konservativen Regierungspartei Partido Popular richtet, kann sie als demokratische Meinungsäußerung gelesen und – etwa bei den nächsten Wahlen – ins Positive gewendet werden.

Ob der Misere allerdings in absehbarer Zeit politisch beizukommen ist? Es ist ein Dilemma, dass für all die Touristen, die auf Mallorca das erschwingliche Naturerlebnis suchen, von einheimischen Bauunternehmern Hotelburgen gebaut werden, die genau dieses Naturerlebnis mehr und mehr ersticken. Ästhetisch wie ökologisch hat sich dieser Teufelskreis also längst schon geschlossen – auch wenn es „im Inland ja noch sooo schöne unberührte Flecken“ geben soll. Ökonomisch aber kennt diese Entwicklung keine andere Grenze als den Kollaps, dem sie sich derzeit offenbar nähert. So gesehen haben die 50.000 Mallorquiner in Palma eigentlich nur gegen sich selbst protestiert – und gegen das, was sie aus ihrer schönen Insel gemacht haben.