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: Peter Hoeg: Magisches Denken für die Mittelklassen

Am Ende versteht man dann nur noch Bahnhof. Auch der Böse, Josef Kain (Josef K.!), nimmt irgendwie teil an dem großen Versöhnungsritual, das ihn und seine Jungs von ihren Untaten erlöst? Oder wir erblicken – ganz zum Schluss – die Himmelfahrt des Vaters, der Mutter und des magischen Kindes, von dem uns noch verraten wurde, dass Vater und Mutter die Seinen sind? „Pizza Alles Drauf“ nennt das der Kostverächter.

Über lange Jahre müssen die Mittelklassen mit Hilfe von Fantasy, Esoterik, Therapie, Popmusik und anderem Kulturkonsum ein neues Reich der Metaphysik aufgebaut haben, in dem sich jetzt auch durch Lesen leicht Wellness erreichen lässt; im Schlammbad, während Weltmusik erklingt. Kasper Krone schenkte ein Unfall das unermesslich erweiterte Gehör, mittels dessen er sofort bei allen Menschen, in allen Räumen und Konstellationen ihre geheime Tiefenstruktur erkennen kann, wie sie sich in Tönen und Geräuschen darlegt, gegen die alle anderen taub sind. Diese besondere Begabung – unaufgefordert bringt der Klappentext Patrick Süskinds Geruchsgenie Grenouille ins Spiel – ermöglicht Kasper Krone Musikerlebnisse (insbesondere mit Johann Sebastian Bach!), die überwältigend das Seiende im Ganzen erschließen. Er erwirbt Ruhm als Therapeut, denn jede Seelenstörung kann das Hörgenie intuitiv als Tonstörung identifizieren. Er kommandiert auf der Welt ein Millionenpublikum durch seine Darbietungen als Clown im Zirkus (deren Schilderung uns der Roman erspart – wäre allzu schwierig, es müsste was zwischen Joseph Beuys und DSDS und Wagner sein).

Und Kasper Krone zapfen wegen seines okkulten Zugangs zu den Weltproblemen Kripo und Geheimdienste und das organisierte Verbrechen an. Es geht speziell um KlaraMaria (die BinnenInitiale ist in der Belletristik angelangt) sowie andere Kinder, deren Sinn für tonmäßige Tiefenstrukturen (den sie mit Kasper Krone teilen) von den Gangstern um Josef K. irgendwie ausgebeutet werden soll. Für Grundstücksspekulationen? Weil sich das organisierte Verbrechen rechtzeitig den Zugriff auf die neue magisch-metaphysische Hinterwelt der Mittelklassen sichern will? Oder beides? Oder habe ich alles falsch verstanden, weil mich diese Religiosität ohnedies abstößt? Es erklingt die Lateinische Messe in altdeutscher Rechtschreibung.

Reden wir technisch. Peter Hoeg konstruiert seinen Roman als ununterbrochene Folge von Großaufnahmen. Kurze, gern auch unvollständige und Einwortsätze. „Wieso war es ihm eigentlich nie gelungen? Die richtige Frau zu finden. Sanft. Geduldig. Loyal. Wieso waren die Frauen in seinem Leben Furien? Wie seine Mutter. Wie Sonja. Wie Stine.“ Wie die Königin von England. Wie Sharon Stone. Wie Madonna. Wie Susan Sontag. Gern endet der Absatz mit einem Cliffhanger, den der nächste Absatz natürlich unaufgelöst lässt. Das soll Spannung erzeugen. Diese unmittelbare Nähe zum Geschehen. Ununterbrochen. Tatsächlich erzeugt es Ungeduld, weil man bald herausfindet, dass es nirgendwo Überblick geben wird. Jede Konstruktion eines Zusammenhangs verschwindet sofort wieder in der Folge der Großaufnahmen.

Es schaut so aus, als wäre das der Sinn vont Janze: den Sinn vont Janze verhüllt zu halten und in der Zwischenzeit immer noch eine Autofahrt durch die Straßen von Kopenhagen unterzubringen, immer noch ein unerlaubtes Eindringen in ein Machtzentrum, immer noch eine Fahrt im Aufzug, die in einem Göttersaal mit kämpferischen Auseinandersetzungen endet, die ohne Sieg und Niederlage bleiben, also für den Ablauf der Geschichte unfruchtbar sind.

Als Lesezeichen ist eine Karte beigegeben: die Liste der 26 Hauptpersonen samt Kurzcharakteristik. Die Liste soll Ihnen das Strampeln in diesem Erzählbrei erleichtern. MICHAEL RUTSCHKY

Peter Hoeg: „Das stille Mädchen“. Aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle. Hanser Verlag, München 2007, 460 Seiten, 24,90 Euro