Filzstift, Schere und Bohrer

Der Machtwechsel in Baden-Württemberg ist nach 58 Jahren Realität. Doch der schwarze Filz wird sich nicht in Luft auflösen. Jetzt kündigt die grün-rote Regierung einen neuen Politikstil an, die Erwartungen ihrer Wähler gehen aber weit darüber hinaus. Frisst das schwäbische Revolutiönchen womöglich am Ende seine Kinder?

von Josef-Otto Freudenreich und Rainer Nübel

Nein, die tunesischen, ägyptischen und libyschen Revolutionäre haben noch kein Glückwunschtelegramm ins Ländle geschickt. Und selbst Fidel Castro hat seinen altrevolutionären Gruß nicht entboten. Dabei hätte man in den vergangenen Monaten glatt meinen können, dass Stuttgart eine der wichtigsten Rebellenhochburgen sei. Weltweit gesehen. Und dass es wirklich um eine Revolution ginge, nicht um irgendeine, sondern um die schlechthinnige Revolution: der Mittelstandsbürger gegen eine arrogante, korrupte und skrupellose Macht, und die Grünen als der politische Arm all jener, die zu Zehntausenden auf die Straße gegangen waren. Jetzt feierten sie das Ende von gefühlten hundert Jahren Einsamkeit.

Nur: Als am Abend des 27. März der grüne Balken auf satte 24,2 Prozent wuchs, da wirkte Winfried Kretschmann so gar nicht wie ein schwäbischer Che Guevara. Eher wie Martin Luther, obwohl der gebürtige Oberschwabe erzkatholisch ist: Hier steh ich, ich kann nicht anders – jubeln, nur verhalten und leicht verdruckt, wie man im Ländle sagt. Und als bei der Wahlparty wieder „oben bleiben“ durch den Raum dröhnte, moderierte Kretschmann die Kampfparole der Stuttgart-21-Gegner fast ab: „Wir sind jetzt oben, Schwarz-Gelb ist unten.“ Der nüchterne Politiker und Hobbyphilosoph, designiert als erster grüner Ministerpräsident, weiß wohl nur zu gut: Die „historische Zäsur“, die er am Abend des großen Grünen-Siegs in jedes Mikrofon hinein beschwor, ist weniger das spektakuläre Resultat einer Revolution als viel mehr einer speziellen Dialektik. Die CDU steht, fast bis zur Unkenntlichkeit, für die Politik eines kalten Rationalismus, die Grünen aber bedienten, als bisweilen wohlkalkulierte Antithese, die Emotionen der Bürger. Das Gefühl, dass sich endlich etwas ändern muss in diesem Land, die Empörung über politische Entscheidungen jenseits des Bürgerwillens und die Sorge darum, ob die Welt in Zukunft noch lebenswert und intakt ist.

Flexibler Umgang mit Positionen bei Politikern

9.000 Kilometer entfernt, fast am anderen Ende der Welt, sorgten dramatische Ereignisse maßgeblich dafür, dass diese Dialektik zum Machtwechsel in Baden-Württemberg führte. Und eine Landtagswahl zu einer globalen Dorfwahl wurde. Die Nuklearkatastrophe in Japan, die in Windeseile die Debatte über die Atompolitik neu entfachte, ließ CDU-Kanzlerin Angela Merkel und ihren treuen Laufzeitenverlängerungsvasallen Stefan Mappus eine Volte vollführen, die atemberaubend war. Und die „Revolte“ in Südwest enorm anheizte, in der Endphase des Wahlkampfes deutlich stärker noch als der Dauerbrenner Stuttgart 21. Das Gefühl sehr vieler Bürger, dass die plötzliche atompolitische Kehrtwende von Schwarz-Gelb nichts anderes als ein kühles Wahlkampfkalkül war, trog nicht. Sie haben inzwischen ja auch reichlich Erfahrung, was den flexiblen Umgang mit Positionen bei Politikern angeht.

Hochgradig emotional wetterten und zeterten grüne und sozialdemokratische Politiker in ehrlicher Entrüstung, als publik wurde, dass der unverhoffte Wahlkampfhelfer, FDP-Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle, diese Wahrheit tatsächlich ausgesprochen hatte. Dabei vergaßen sie geflissentlich, dass solche Volten vor wichtigen Wahlen auch Rot-Grün nicht fremd sind. Man erinnere sich, Gerhard Schröder propagierte 2002 das hehre Nein in Sachen Irakkrieg, und auch sein grüner Kellner Joschka Fischer gab den Profipazifisten. Deutschland beteilige sich nicht an einem solchen Krieg, basta, wurde dem Wahlvolk in einer überzeugenden Vorstellung einsouffliert. Mit Erfolg, die Strategie ging auf, die Bundestagswahl wurde gewonnen. Dass deutsche Agenten des Bundesnachrichtendienstes (BND), wie sich später herausstellte, in Bagdad blieben und für den großen Bruder USA militärische Ziele ausbaldowerten, muss man wohl als Kollateralschaden politischer Aufrichtigkeit ansehen.

Die CDU – wie bei Hempels unterm Sofa

Das taktische Verhältnis zur Wahrheit, im Volksmund: Verlogenheit, das ist es, was die Bürger in Baden-Württemberg im Laufe der Jahre besonders auf die Palme brachte. Und was sie zunehmend mit der Dauermacht in ihrem Land in Verbindung brachten, mit der CDU. Tatsächlich boten die Christdemokraten, auch und besonders hinter der Parteifassade, zuweilen ein beachtlich erschütterndes Bild. In der Landes-CDU, die sich wertebewusst gern als heilige Familie geriert, ging es in mitunter zu wie bei Hempels unterm Sofa. Drei besonders beeindruckende Beispiele: Die CDU-Familie intervenierte nicht, als Günther Oettinger im Herbst 2004 öffentlich einen „fairen sachlichen Wettbewerb“ mit Annette Schavan um die Teufel-Nachfolge ankündigte – und sein Umfeld gleichzeitig ausgewählte Journalisten eifrig zu einer Schlammrecherche zu ermutigen versuchte. Man möge doch mal eruieren, mit wem die liebe Parteifreundin im Hotel „Jägerhof“ in Isny in der Sauna war. Und man nahm es auch hin, dass aus derselben Schmuddelecke der Regierungszentrale das Gerücht Richtung Boulevard gestreut wurde, Christoph Palmer habe ein ernstes Eheproblem. Just zu jenem Zeitpunkt, als Palmer wieder als MP-tauglich gehandelt worden war. Und keiner der schwarzen Granden hatte die Courage, ihrem Günther offen zu sagen, dass er sich von seiner unseligen Entourage trennen soll.

Auch Stefan Mappus nicht. Dabei kam auch er in den Genuss dieses pikanten Umfeldes. Als Familienoberhaupt Merkel sich Ende 2007 mal wieder über Oettingers Kapriolen aufregte und im Berliner CDU-Krisenzirkel schon der Name Mappus als möglicher Nachfolger gehandelt wurde, soufflierten unionsnahe Feuchtgebietsexperten stante pede diversen Journalisten ein ungeheuerliches Gerücht: Der Stefan habe eine Rotlichtaffäre. Mappus kochte und stellte, wie er selbst einmal erzählte, den Münchhausen mit lauten Worten zur Rede. Um bei nächster Gelegenheit öffentlich den Schulterschluss mit Günther Oettinger zu demonstrieren. Wie heißt es nach einer grandiosen Niederlage immer so schön: Die CDU hat jetzt die Chance, sich rundum „zu erneuern“. Dringend nötig hat sie’s.

Doch jetzt soll im Musterland alles anders werden, ganz anders. Einen neuen Politikstil hat Winfried Kretschmann angekündigt: bürgernah, offen, selbstkritisch. Dem besonnenen, ausgleichenden Urgrünen, der in seinen Wertevorstellungen womöglich Erwin Teufel näher steht als Joschka Fischer, möchte man eine solche Programmatik abnehmen. Doch es ist kein Geheimnis mehr, dass viele seiner realpolitischen Parteifreunde inzwischen genau so kühl kalkulieren oder taktieren wie die Schwarzen. Und dass sie interne Kritiker mitunter mit ähnlicher Wonne wegbeißen. Vor allem, wenn es sich, in ihren Augen, um ewig gestrige Fundis oder heillose Weltverbesserer handelt. Jutta Ditfurth etwa, ehemals fundamentale Frontfrau der Ökopartei, firmiert bei vielen Grünen-“Freunden“ inzwischen als Mutter Blamage.

Die Grünen sind eine ganz normale Partei geworden, mit allen Intrigen, Kabalen, Machtspielchen und mit dem einzigen Unterschied, dass sie ihren Streit um Macht und Ego offener und verletzender austragen. Jeder, der geglaubt hat, er könne sich in der Partei der Sonne wärmen, in einer Art beschützender Werkstatt gar, wird schnell eines Schlechteren belehrt. „Wer sein soziales Umfeld nur in der Partei hat“, sagt ein Insider, „ist sofort tot.“

Insofern ist es Kennern auch ein Rätsel, wie Kretschmann in diesem Haifischbecken überleben konnte und kann. Hochverletzlich und sensibel, wie er ist, harmoniebedürftig und verstört, wenn ihm aus Mappus-Kreisen eine Krankheit angehängt wird. Dann fällt ihm nur noch das Wörtchen „unanständig“ ein, das in der politischen Arena ein ganz schweres Geschütz ist. Moralmäßig gesehen. Die Gönners und Hauks in der CDU werden davon gewiss beeindruckt sein, und die quicken Kuhns in Berlin, die Kretschmann ob seiner Bockigkeit nie wirklich ernst genommen haben – bis dato jedenfalls –, werden bestenfalls mit den Schultern zucken.

Nils Schmid wird noch seine Freude mit Drexler haben

Dem Juniorpartner, der älteren SPD, ist dieser Politikstil bestens vertraut. Unvergessen, wie die Herren Wolfgang Drexler und Claus Schmiedel 2008 den einstigen Jungstar Ute Vogt aus dem Amt der Fraktionschefin gejagt haben. Das hoffnungsbesetzte „Mädle“ hatte seine Schuldigkeit getan, Schmiedel folgte nach. Dass er sich danach mit den stockkonservativen Ärzten gemeinmachen wollte, die gegen den Gesundheitsfonds von Parteifreundin Ulla Schmidt mobilisierten, war bei der baden-württembergischen SPD ebenso opportun wie die wundersame Karriere Drexlers. Aus dem Landtagsvize wurde „Mister Stuttgart 21“, der jetzt einem Baustopp zustimmen muss, den er bis vor kurzem ins Reich der Fantasie verwiesen hat. Auch mit ihm wird Nils Schmid, der neue Erste, noch viel Freude haben. Knapp, wie die Mehrheit ist.

Die anderen könnten das Spiel gelassen betrachten. Ihr System steht. Fast 58 Jahre, eine politische Ewigkeit, hat die CDU dieses Land regiert. Durchregiert, von der Villa Reitzenstein aus, der Machtzentrale, bis zum schwarzen Ortschaftsrat im kleinsten Schwarzwald-Weiler, bis zur Besetzung des Pförtners in einem Landratsamt der Ostalb, bis zum letzten Schulrektor. So entstand ein breites, gleichzeitig filigranes Netzwerk, mit einem schwarzen Filzstift durchs ganze Musterländle gezogen. Filz, so versichern Handarbeitsexperten, sei ein ungemein festes Material, dem nur mit einer Schere beizukommen sei. Wird die neue grün-rote Regierung diese tiefen Schnitte machen? Und kann das überhaupt gelingen?

Der designierte neue Ministerpräsident müsste eigentlich ein Filzkenner sein. Immerhin stammt Winfried Kretschmann aus Oberschwaben, einer Zentralregion des christdemokratischen Networkings. Aus dem Himmelreich des Barock, wo die Landräte wie Monarchen über Feld und Flur ziehen und die Dinge unter sich regeln, zusammen mit der Schwäbischen Zeitung, dem Zentralorgan für „Christliche Kultur und Politik“. Wer diese Kreise stört, muss aufpassen, nicht ans Feldkreuz von Exlandrat Wilfried Steuer („Atom-Steuer“) genagelt zu werden, dem alles Alternative ein Gräuel war: „Fanget se und hebet se.“

So nimmt es nicht Wunder, dass kritische Journalisten der Landespresse, die es leibhaftig gibt, am Wahlabend regelrecht aufgeatmet haben sollen, wie es aus ungewöhnlich gut unterrichteten Medienkreisen heißt. Vorbei scheint die Zeit, als derart notorische Nörgler mächtig diskreditiert oder, wie etwa unter Erwin Teufel, zu Hintergrundgesprächen meist nicht eingeladen wurden. Doch auch da könnte Ernüchterung einkehren. Wie haben etliche Journalisten innerlich gejubelt, als 1998 die Kohl-Ära – nach 16 Jahren – zu Ende war. Und wie frustriert, auch fassungslos waren sie, als sie ziemlich schnell realisieren mussten, dass so manche Matadoren der neuen rot-grünen Bundesregierung auf kritische Berichterstattung mit denselben schlichten Bestrafungsmethoden reagierten: Liebes-, sprich Interviewentzug, juristische Drohgebärden oder Ausladung bei Politreisen. Auch wenn es bei der unbotmäßigen Berichterstattung mitunter nur um die Haarfarbe des Kanzlers ging.

Die baden-württembergische CDU erlebt jetzt machtpolitisch ihr eigenes Moratorium. Die Wähler haben sie, in einem „emotionalen Ausnahmezustand“, wie Stefan Mappus sagen würde, vorübergehend abgeschaltet. Am Wahlabend, bei der rege besuchten „Mappschiedsparty“ der Parkschützer auf dem Stuttgarter Schlossplatz, bat eine Kabarettistin mit der Stimme von Tanja Gönner um eine Schweigeminute – „für Jesus, Petrus, Paulus, Mappus“. Wer den politischen Schaden hat, spottet jeder Beschreibung.

Für die Landesgrünen indes wird die neue ungewohnte Macht alles andere als eine Spaßveranstaltung. Dreißig Jahre, so hatte Winfried Kretschmann am Wahlabend unaufhörlich erinnert, habe man in der Opposition „dicke Bretter gebohrt“. Die Bretter, die es jetzt zu bohren gilt, sind mitnichten dünner. Noch am Abend des Triumphes haben Stuttgart-21-Gegner der neuen Regierung ihre Forderungen lautstark ins Programmbuch geschrien: sofortiger Baustopp, Ende des Mega-Bahnprojekts. Aber wenn’s das bloß wäre: Auch die Atompolitikwende will jetzt nicht nur programmatisch, sondern pur realpolitisch umgesetzt werden. Und dabei sind die Grünen und die SPD ausgerechnet in der pikanten Rolle von Energiekonzernmanagern, als neue Chefs der EnBW, dank des milliardenschweren Mappus-Problem-Erbes. Und da wären noch eine solide Haushaltspolitik, eine verlässliche Wirtschaftspolitik, eine innovative Bildungspolitik und und und.

Willkommen in der Realität der Realpolitik! Winfried Kretschmann spricht Dialekt, das hört man gern im Land. Was aber noch lange nicht heißt, dass die Dialektik des sensationellen Grünen-Erfolgs längerfristig aufgehen wird. Emotionen, Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen von Bürgern wollen nicht nur erfüllt werden. Sie müssen Realität werden. Sonst schlägt Euphorie schnell in Enttäuschung um, und der Traum ist nach spätestens fünf Jahren zu Ende. Mitunter frisst die Revolution ihre Kinder. Auch wenn sie nur ein Revolutiönchen ist.