Eine Liebe auf den ersten Blick

TAZ-SERIE JÜDISCHES LEBEN Gleich beim ersten Besuch wusste sie, dass sie hier mal leben will. Damals war Yael Kahn 15. Vor zwei Jahren tauschte die Israelin dann Tel Aviv mit Berlin

■ Vor 1933 lebten etwa 170.000 Juden in Berlin. Die meisten wurden von den Nazis ermordet oder in die Emigration getrieben. Nur 8.000 Berliner Juden erlebten die Befreiung im Mai 1945. Heute zählt die Jüdische Gemeinde gut 12.000 Mitglieder. Von ihnen stammt ein großer Teil aus der ehemaligen Sowjetunion. Die Jüdische Gemeinde ist als Einheitsgemeinde organisiert, die mehrere Strömungen – orthodoxe sowie liberale – vereint. Daneben gibt es eine kleine orthodoxe Gemeinde namens Adass Jisroel. Zudem gehören mehrere Tausend Juden gar keiner Gemeinde an.

■ Zur letzten Gruppe gehören auch die meisten Israelis, die Berlin in den vergangenen Jahren für sich entdeckt haben. Mit Erstwohnsitz gemeldet sind in der Stadt knapp 3.600, Schätzungen gehen jedoch von 15.000 bis 30.000 Israelis aus, die – wenigstens für eine gewisse Zeit – hier leben. Die Community ist in Israel dafür bekannt, besonders links zu sein. Auch viele israelische Schwule und Lesben zieht es nach Berlin.

■ In der Serie widmen wir uns ganz unterschiedlichen Aspekten jüdischen Lebens. Den Auftakt am 10. Juli machte ein Interview mit Cilly Kugelmann, der stellvertretenden Leiterin des Jüdischen Museums. Thema nächste Woche zum Abschluss der Serie ist die Jüdische Gemeinde Berlin. (taz)

VON GESA STEEGER

Wenn Yael Kahn durch die Straßen von Berlin läuft. fragt sie sich manchmal, wie es wohl gewesen wäre, in Deutschland aufzuwachsen und nicht in Israel. Wie ihr Leben verlaufen wäre, hätte ihre Familie nicht das Land verlassen müssen.

Die 31-Jährige sitzt auf einer Bank vor der Grimm-Bibliothek in Mitte und lässt sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Im Gewühl der Studenten fällt die Software-Verkäuferin kaum auf: Ihre Züge sind mädchenhaft, die Hosenbeine hat sie hochgekrempelt. Ihre Sonnenbrille thront lässig auf ihrem dunklen Haarschopf. Berlin sei immer in ihrem Kopf gewesen, erzählt sie. „Ich musste einfach herkommen.“ Ihr Deutsch ist gesprenkelt mit englischen Worten. Hin und wieder fällt sie ins Hebräische.

Yael Kahn ist die Nachfahrin von „Jeckes“, deutschen Juden, die Mitte der 1930er Jahre vor dem Nazi-Regime nach Palästina flohen.

Ihr Großvater wuchs in Düsseldorf auf, ihre Großmutter in Berlin. 1935, zwei Jahre nach Hitlers Machtergreifung, verließen die Familien das Land. Da war ihre Großmutter gerade 15 Jahre alt, ihr Großvater 17. In der neuen Heimat kreuzten sich die Wege der Jugendlichen. Sie heirateten und bekamen zwei Kinder – eine Tochter und einen Sohn: Yael Kahns Vater.

Deutschland sei immer ein Thema in der Familie gewesen, erinnert sich Yael Kahn an ihre Kindheit. Ihre Großeltern sprechen Deutsch. Yael Kahns Vater ebenfalls. Mit 15 Jahren besucht sie das erste Mal Berlin und ist sofort begeistert. „Die Leute, die Stadt. Ich wusste: irgendwann möchte ich hier leben“, sagt sie. Nach ihrem Ingenieurstudium ergreift sie die Chance und geht nach Berlin. Drei Monate sollen es sein. Zu Hause, in Tel Aviv, warten ihre Freunde, die Familie und ein gut bezahlter Job in einem Start-up-Unternehmen. Doch Yael Kahn kehrt nicht zurück.

Knapp zwei Jahre ist das jetzt her. Kahn lacht, wenn sie sich an diese Zeit erinnert. Damals habe sie ihren Freund kennengelernt, erzählt sie. An ihrem ersten Tag in der Stadt. Seitdem leben die beiden zusammen.

„Mein Vater und mein Freund haben Deutsch gesprochen“, erzählt Yael Kahn und strahlt. In dem Moment habe sie das Gefühl gehabt, dass sich ein Kreis schließe

Als sie sich in ihrem neuen Leben eingerichtet hat, beginnt Yael Kahn sich mit ihrer deutschen Herkunft zu beschäftigen: „Ich wollte wissen, ob ich in Deutschland noch eine Familie habe.“ Im Archiv des jüdischen Museum stößt sie auf Hinweise: Die Familie ihrer Großmutter stammte aus Posen und trägt den Nachnahmen Kette. Ihr Ururgroßvater war Kaufmann. Vor der Vertreibung lebte die Familie am Mehringdamm. Mehr habe sie noch nicht herausfinden können, sagt Kahn, und will die Hoffnung nicht aufgeben: „Ich fühle, dass es irgendwo jemanden gibt.“

Ihre Familie in Israel habe sie immer in ihrer Entscheidung, in Deutschland zu leben und einen Deutschen zu lieben, unterstützt, erzählt Kahn. Nur ihre Großmutter mütterlicherseits habe einmal Bedenken geäußert, dass ihre Enkelin jetzt unter Deutschen lebe. Irgendwann habe aber auch sie die Entscheidung akzeptiert, sagt Kahn.

Vor kurzem seien ihre Eltern zu Besuch gekommen, erzählt sie. „Mein Vater und mein Freund haben Deutsch gesprochen“, erzählt Yael Kahn und strahlt. In dem Moment habe sie das Gefühl gehabt, dass sich ein Kreis schließe.