„Die Leute sind wirklich da“

SPIELKULTUR Bremens allerältestes Laienorchester tritt am Sonntag in der „Glocke“ auf

■ 56, ist Hausfrau und erste Bratschistin des Orchesters der Musikfreunde Bremen.

Interview HENNING BLEYL

taz: Vor 81 Jahren trat Ihr Orchester zum ersten Mal in der „Glocke“ auf, am Sonntag spielen Sie dort Ihr Frühjahrskonzert. Was hat sich in der Zwischenzeit verändert?

Claudia Scheld: Wir spielen den Radetzky-Marsch nicht mehr – und die Glocke ist ein ausschließlicher Konzertsaal geworden. Früher war sie nicht fest bestuhlt und wurde auch für Faschingsbälle und dergleichen genutzt.

Außerdem ist der Eintritt billiger geworden: 1923 kostete eine Karte 1.000 Milliarden Mark.

Thomas Schneeberg: Am Sonntag zahlen ein Erwachsener 18 Euro, Schüler und Studierende acht. Wir haben aber auch eine Familienkarte für 35 Euro eingeführt. Seit unserem Dirigentenwechsel vor zwei Jahren hat sich sehr viel verändert. Auch das Repertoire, das früher hauptsächlich der unterhaltenden Klassik verpflichtet war, bauen wir neu auf und erweitern es mit Werken der Romantik und aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Ihr aktuelles Programm ist mit Humperdinck, Brahms‘ Doppelkonzert und Rimski-Korsakows „Scheherazade“ aber schon noch eher populär.

Schneeberg: Stimmt. Aber im Frühjahr 2012 haben wir eine Art Uraufführung: Unser Dirigent Benjamin Gordon, der ein hervorragender Arrangeur ist, hat den Klavierpart von ausgewählten Schubertliedern für Orchester umgeschrieben. Es ist ein langsamer Prozess, nicht nur das Orchester, auch unser Publikum an Neues zu gewöhnen – bis wir irgendwann soweit sind, auch mal etwas richtig Modernes zu spielen. Oder ein Crossover-Projekt mit einer Band zu machen.

Sie haben Mitglieder, die die Hälfte der Orchester-Historie mitgestaltet haben – 40 Jahre –, andere sind selbst erst 20. Wie geht das zusammen?

Scheld: Sehr gut. Einer unserer Bratscher ist übrigens sogar fast 50 Jahre dabei. Früher war ich mit Ende 40 eines der Orchester-Küken, durch den Umbruch vor zwei Jahren, als mit dem neuen Dirigenten bis heute über 20 jüngere Musiker kamen, ist ein enormer Generationswechsel in Gang gekommen. Dabei achten wir natürlich sehr darauf, dass niemand sich verdrängt fühlt.

Ihre kurz gefasste Orchestergeschichte hat zwischen 1930 – die erste Radioübertragung – und 1958 – Generalmusikdirektor Gößling übernimmt das Ruder – eine Lücke. Wissen Sie, wie viele jüdische Orchesterkollegen ausgeschlossen wurden?

Scheld: Das geht aus den Chroniken nicht hervor. Dort steht aber, das ab 1942 keine Proben und Konzerte mehr stattfanden, weil das überwiegend männlich besetzte Orchester größtenteils zum Kriegsdienst eingezogen wurde. Die verbliebene kleine Schar spielte dann in Lazaretten. Nach 1945 gab es wie für die meisten Musikvereine ein Aufführungsverbot, das erste richtige Konzert fand 1947 statt.

Die „Musikfreunde“ hatten ursprünglich auch einen „Orchesterchor“. Wo haben Sie die Sänger gelassen?

Scheld: Der Chor war ein Projekt des früheren Orchesterdirigenten und arbeitet unseres Wissens nach immer noch mit ihm zusammen. Wir führen im März 2012 Beethovens 9. Sinfonie gemeinsam mit dem Bremer RathsChor auf – das ist eine tolle Herausforderung.

Wie ordnen Sie sich innerhalb der Bremer Laienorchester-Szene ein? Das Alt-Hastedter Kammerorchester gibt am Sonntag ebenfalls sein Frühjahrskonzert, seit 2006 gibt es auch Hans-Wilhelm Kufferaths „Neues Kammerorchester Bremen“ ...

Scheld: ... und in Bremen-Nord die „Camerata“. Man kann sagen: Wir sind das älteste und mit fast 70 festen Mitspielern eines der größten Laienorchester.

Schneeberg: Und die Leute sind wirklich da. Als ich vor anderthalb Jahren ins Orchester kam, war ich sehr positiv überrascht, wie vollständig die Proben besucht werden.

Als „GröAL“, die größtmögliche Ansammlung von Laienmusikern, haben Sie komplexe logistische Aufgaben zu bewältigen. Wie gut klappt das in Zeiten abnehmender Ehrenamtlichkeit?

Scheld: Die Leute stehen nicht Schlange, um Notenwart zu werden. Das ist auch eine sehr umfangreiche Aufgabe: Statt vierstimmig, wie die meisten Chöre singen, brauchen wir ja meistens um die 20 Einzelstimmen. Aber es funktioniert.

Schneeberg: Für alle neuen Aufgaben wie die Neugestaltung der Website, ein beginnendes Marketing und weitere Aufgaben haben sich sofort Leute gefunden, die das übernehmen.

Wer bestimmt das Programm?

Scheld: Wir haben einen Beirat aus Stimmführern, Vorstand und Konzertmeister, der das zusammen mit dem Dirigenten macht. Und im Gegensatz zu früher, wo ich dieses Gefühl nicht hatte, kann sich mittlerweile auch jedes einzelne Orchestermitglied mit seinen Wünschen einbringen.

Schneeberg: Es gibt keine einsamen Entscheidungen mehr. Manchmal haben wir wegen des Repertoires durchaus erregte Diskussionen.

Zwischen einem ehrgeizigen Profi-Dirigenten und einem Laienorchester kann es ja durchaus zu Interessens-Konflikten kommen ...

■ 50, studierte Geige und Posaune an der HfK Bremen, spielte im Oldenburger Staatsorchester, mit James Last und eigenen Jazzensembles, war Musikproduzent und arbeitet heute an der Uni Oldenburg u. a.als Projektleiter am „Centrum für lebenslanges Lernen“. Er ist Konzertmeister des Orchesters.

Schneeberg: Sicher – das muss man austarieren. Wir bewegen uns immer wieder auf der Grenze des für uns Schaffbaren, zum Beispiel mit den „Vier letzten Liedern“ von Richard Strauß im letzten Konzert. Dabei darf keiner auf der Strecke bleiben. Aber es gibt ja auch ein paar Tricks, wie man sich im „ewigen Eis“ zurecht finden kann.

Bitte wo?

Schneeberg: Zum Beispiel in der achten Lage auf der Geige, sozusagen bei gefrierender Nässe auf dem Griffbrett ...

Scheld: Ich hätte zum Beispiel nie gedacht, dass ich mal die „Scheherazade“ spielen würde. Aber es scheint zu klappen ...

In besonders ambitionierten Laienchören wie dem Oldenburger Kammerchor werden auch mal Leute verabschiedet, wenn sie den Leistungsvorstellungen nicht mehr entsprechen. Würden Sie das gegebenenfalls auch so handhaben?

Schneeberg: Das lehne ich absolut ab. Wir selbst wollen schließlich auch noch irgendwo spielen können, wenn wir 80 sind.

Herr Schneeberg, Sie haben Musik studiert und früher unter anderem im Oldenburger Staatsorchester gespielt. Ist es da nicht manchmal auch schwierig, sich aufs Laienmusizieren einzulassen?

Schneeberg: Ich habe 15 Jahre gar nicht gespielt – und diese Pause brauchte ich auch, um von meinem professionellen Anspruch herunter zu kommen. Jetzt spiele ich mit Leuten, die kommen, weil sie das wollen – und nicht, weil sie Dienst haben. Das ist ein ganz anderer Enthusiasmus.

Konzert: Sonntag 19 Uhr, Glocke