Die Dreivierteljüdin

TAZ-SERIE JÜDISCHES LEBEN Ein Schreck sei es gewesen, sagt Johanna Rubinroth, als sie sich mit ihren jüdischen Wurzeln konfrontiert sah. Nach einer katholisch geprägten Kindheit fühlt sich die Schauspielerin und Autorin im Judentum aber mittlerweile gut aufgehoben

■ Vor 1933 lebten etwa 170.000 Juden in Berlin. Die meisten wurden von den Nazis ermordet oder in die Emigration getrieben. Nur 8.000 Berliner Juden erlebten die Befreiung im Mai 1945. Heute zählt die Jüdische Gemeinde gut 12.000 Mitglieder. Von ihnen stammt ein großer Teil aus der ehemaligen Sowjetunion. Die Jüdische Gemeinde ist als Einheitsgemeinde organisiert, die mehrere Strömungen – orthodoxe sowie liberale – vereint. Daneben gibt es eine kleine orthodoxe Gemeinde namens Adass Jisroel. Zudem gehören mehrere Tausend Juden gar keiner Gemeinde an.

■ Zur letzten Gruppe gehören auch die meisten Israelis, die Berlin in den vergangenen Jahren für sich entdeckt haben. Mit Erstwohnsitz gemeldet sind in der Stadt knapp 3.600, Schätzungen gehen jedoch von 15.000 bis 30.000 Israelis aus, die – wenigstens für eine gewisse Zeit – hier leben. Die Community ist in Israel dafür bekannt, besonders links zu sein. Auch viele israelische Schwule und Lesben zieht es nach Berlin.

■ In der Serie widmen wir uns ganz unterschiedlichen Aspekten jüdischen Lebens. Den Auftakt am 10. Juli machte ein Interview mit Cilly Kugelmann, der stellvertretenden Leiterin des Jüdischen Museums. Themen in den nächsten Wochen sind Streitigkeiten innerhalb der Gemeinde und ein Gespräch mit einem Ethnologen über das Jüdischsein als Marke. (taz)

VON GESA STEEGER

Zwei Geschwister tanzen in einem Club. Sie sind jung und feiern ausgelassen. Plötzlich verwandelt sich die Szenerie: Die Tanzfläche wird zum Konzentrationslager. Angst, Panik, Tod breiten sich aus. Die Geschwister sitzen in der Falle. Ihre Herkunft, stets ein gut gehütetes Familiengeheimnis, ist gelüftet: Sie sind Juden.

Johanna Rubinroth schüttelt es, wenn sie diese Geschichte erzählt. Selbst jetzt noch. Was vor rund acht Jahren eigentlich nur als Szenenskizze für ihre Filmschule gedacht war, löst eine Kettenreaktion im Leben der Schauspielerin und Drehbuchautorin aus: Längst Vergessenes wird an die Oberfläche gespült und Johanna Rubinroth von den Ereignissen überrollt. „Plötzlich wurde mir bewusst: Das ist meine Geschichte, die ich da aufgeschrieben habe. Meine Familie hat ihre Herkunft versteckt. Ich bin diejenige, die herausfindet, dass sie Jüdin ist.“

Die 38-Jährige sitzt in einem Straßencafé in Mitte. Über den Dächern leuchtet die Spitze der Synagoge im Abendlicht. Ihr mädchenhaftes Gesicht ist sorgfältig geschminkt. Ein Davidstern ziert den massiven goldenen Ring am Ringfinger ihrer rechten Hand. Ein großer Schreck sei das gewesen, als sie sich plötzlich mit ihren jüdischen Wurzeln konfrontiert sah, erinnert sich Rubinroth und nimmt einen tiefen Zug ihrer Zigarette.

Johanna Rubinroth wächst in Polen auf. Ihre Kindheit ist geprägt vom katholischen Glauben ihrer Großeltern. Sie wird getauft auf den Namen Pszczolowska. Mit ihrer Oma hört sie die Sonntagsmessen im Radio. Das Arbeitszimmer ihres Großvaters ziert ein Foto des Papstes. Dass ihre Großeltern Juden sind und den Holocaust überlebt haben, ist ein Tabu, über das niemand in der Familie spricht. Auch dass der Großvater seinen Namen ändern ließ und das jüdische Rubinroth ablegte, bleibt unausgesprochen. „Es gab hier und da versteckte Andeutungen“, erinnert sich Johanna Rubinroth. Mal fiel ein Name, dann erzählte jemand von einer Mischehe zwischen Polen und Juden. „Ich wusste, da ist etwas – aber als Kind konnte ich mir keinen Reim darauf machen.“

Erst als Johanna Rubinroth mit ihrer Mutter Polen verlässt und 1984 nach Berlin zieht, wird aus der Ahnung von den jüdischen Wurzeln Gewissheit. Die Mutter beginnt sich mit ihrem Jüdischsein zu beschäftigen. Sie geht in die Synagoge, begrüßt den Sabbat mit einem Gebet, nimmt den Namen ihres Vaters an.

Auch Johanna übernimmt den Namen im Erwachsenenalter, sie möchte wie die Mutter heißen. Aus Johanna Pszczolowska, der Katholikin, wird Johanna Rubinroth, die Jüdin. Doch die jüdischen Wurzeln bleiben ihr fremd: „Ich hatte nie das Gefühl, dass das Ganze irgendetwas mit meiner Person zu tun hat“, erinnert sie sich.

Bis zu jenem Tag in der Filmschule. Wie eine aufgestaute Flutwelle sei ihre jüdische Herkunft plötzlich über sie hereingebrochen, erzählt Rubinroth. Und mit der Flut kommt auch der Schrecken. Ihr wird bewusst: Ein paar Jahrzehnte früher – und sie wäre abtransportiert worden. Ebenso wie Millionen andere Juden. „Nachts träumte ich von Hitler und fing an, die Sammelduschen im Fitnessstudio mit der Gaskammer zu assoziieren“, sagt sie. Jahrelang verfolgen sie Albträume.

Erst als sie anfängt, sich mit ihren jüdischen Wurzeln auseinanderzusetzen, verblasst langsam der Schrecken. Plötzlich sei da auch die Neugierde gewesen, erinnert sie sich. „Das Bewusstsein, dass sich da eine spannende neue Welt auftut.“

Rubinroth beschließt, Hebräisch zu lernen, und belegt einen Kurs in der Volkshochschule der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Doch so richtig warm wird die junge Frau nicht mit der Sprache ihrer Vorväter. „Schon der Weg in den Unterrichtsraum war beängstigend“, sagt sie. Die Schüler müssen durch eine Sicherheitsschleuse gehen. Und auch an den Klang der Sprache kann sie sich nicht gewöhnen: „Für mich hörte es sich an, als würde jemand gleichzeitig husten und atmen.“ Als jemand ihr als Eselsbrücke für „toda raba“ – was „Danke“ heißt – „toter Araber“ zuflüstert, bricht sie den Kurs ab. Das sei zu viel gewesen, sagt Rubinroth und schüttelt ihr kurzes dunkles Haar.

Der nächste Versuch, dem Judentum näherzukommen, führt sie in verschiedene Synagogen. Doch auch hier bleiben ihr die jüdischen Traditionen fremd. Die Männer in den Gebetsmänteln, die inbrünstigen Gebete, die strikte Trennung der Geschlechter – all das kommt ihr zu archaisch vor. „Es war, als würde ich einen fremden Mantel anziehen“, erzählt Rubinroth. Zugleich fühlt sie sich betrogen: „Mir wurde mein Jüdischsein genommen – und jetzt war es zu spät, es zu verinnerlichen.“ Das stimmt sie traurig.

„Es war, als würde ich einen fremden Mantel anziehen“

JOHANNA RUBINROTH

In der Hoffnung, ihre Gefühle zu entwirren, spricht sie mit einer Rabbinerin über ihre Geschichte. Als sie erwähnt, dass ihre Urgroßmutter keine Jüdin gewesen sei, reagiert die Rabbinerin entsetzt. „Was bin ich denn nun?“, habe sie sich nach dem Gespräch gefragt, erinnert sich Rubinroth. „Hitler hätte mich vergast, und diese Frau schmeißt mich quasi aus dem Judentum raus, weil meine Urgroßmutter keine Jüdin war.“

Mittlerweile kann Johanna Rubinroth über solche Geschichten lachen. Heute ist sie in der Religion angekommen. Als Jüdin würde sie sich dennoch nicht bezeichnen, „lieber als berlinisch-polnische Dreivierteljüdin“.

Sie lebt weder koscher, noch hält sie den Sabbat ein, die jüdischen Feste begeht sie bei ihrer Mutter. Doch auch wenn sie kein religiöses Leben führe, das Thema Judentum habe einen festen Platz in ihrem Leben, beruflich wie privat, sagt Rubinroth.

Gelegentlich besucht sie als ehrenamtliche Gesellschafterin alte jüdische Damen.

Seit sie ihre jüdischen Wurzeln angenommen habe, fühle sie sich vollständiger, sagt Johanna Rubinroth. „Als sei da immer ein blinder Fleck gewesen, der jetzt endlich verschwunden ist, um Platz für Neues freizumachen.“