„Die Bosse wohnen an der Copacabana“

In Brasilien hat die Drogenmafia die Armenviertel fest in ihren Griff gebracht, sagt der Bürgerrechtler Jair Krischke. Die Menschenrechtsbilanz der Regierung Lula ist zwiespältig, eine Aufarbeitung der Militärvergangenheit steht aus

taz: Herr Krischke, in brasilianischen Metropolen wie Rio und São Paulo beherrscht das organisierte Verbrechen die Favelas; Präsident Lula bezeichnete die jüngsten Bandenkämpfe in Rio de Janeiro sogar als Terrorismus. Warum kriegt er das Problem nicht in den Griff?

Jair Krischke: Diese kriminellen Banden haben enge Verbindungen zum Drogenhandel, und die schweren Waffen, die bei den Kämpfen im Januar in Rio zum Einsatz kamen, stammen aus dem Waffenschmuggel, vor allem aus Paraguay. Das ist Big Business. Aber im Fernsehen bekommen wir immer nur schwarze Jugendliche in Shorts als Täter präsentiert. Das sind arme Teufel, die das letzte Glied der Kette bilden und früher oder später umkommen. Die großen Mafiosi dagegen tragen Anzug und Krawatte und wohnen in schicken Häusern an der Copacabana.

Warum bleiben die dann unbehelligt?

Für Drogenhandel, Geldwäsche und Waffenschmuggel ist die Bundespolizei zuständig, aber die ist ineffektiv. Deshalb muss die Landespolizei mit ihren wenigen Mitteln gegen das Übel vorgehen, ohne dessen Ursprung angehen zu können.

Warum ist die Bundespolizei denn ineffektiv?

Weil es nur etwa 8.000 Bundespolizisten gibt, die das ganze Territorium Brasiliens abdecken sollen. Unsere Bundespolizei wird von der US-Drogenbehörde DEA bezahlt, damit sie verhindert, dass Drogen in die USA exportiert werden. Dafür wächst das Drogenangebot in Brasilien: Die Preise fallen, die Kämpfe zwischen den Gangs werden härter.

Wie wirkt sich das auf die Lage in den Favelas aus?

Deren Bevölkerung wird vom Staat völlig allein gelassen. In Städten wie Rio haben sie deshalb Milizen gebildet: Ehrlich arbeitende Menschen, deren Leben von den Gangs zur Hölle gemacht wird, werfen ihre letzten Groschen zusammen, um Polizisten oder Expolizisten zu bezahlen, damit diese für Schutz sorgen. Doch in dem Maße, in dem sie die Drogenhändler vertreiben, steigen sie in ihren Vierteln selbst zur Autorität auf und verlangen höhere Schutzgelder.

Und die Bundespolizei tut nichts dagegen?

Sie ist schlecht ausgebildet, ineffektiv, miserabel bezahlt und deshalb korrupt. Außerdem gehört die Militärpolizei zum Erbe der Diktatur. Sie wurde 1969 gegründet und dem Heer unterstellt. Selbst in der Verfassung von 1988 steht, dass sie Hilfskräfte der Armee sind: Da herrschen eine militärische Logik vor und eigene, sehr teure Riten.

Weshalb legt man Militär- und Zivilpolizei denn nicht einfach zusammen?

Das liegt am Druck der Militärs: Sie begreifen die Militärpolizei als Reservearmee für den Notfall. Durch eine Demilitarisierung könnten wir viel Geld sparen, mit dem man die Löhne erhöhen und die Korruption eindämmen könnte. Aber die Regierung Lula ist mit zu vielen anderen, grandioseren Projekten beschäftigt. Darin ähnelt sie den Militärregierungen der Vergangenheit, die von einer Großmacht Brasilien träumten. Der Alltag der Menschen ist ihr nicht so wichtig.

Wie geht Präsident Lula denn sonst mit dem Erbe der Militärregimes um?

Wir Menschenrechtler fordern, dass endlich die Geheimarchive aus der Zeit der Militärdiktatur geöffnet werden, damit diese Epoche rekonstruiert werden kann. Viele Angehörige von Verschwundenen wissen nicht, was mit ihren Lieben geschehen ist. Alle Menschenrechtsorganisationen waren überzeugt, dass Lula dieses Problem lösen würde. Doch als er 2002 sein Amt antrat, kam ein Dekret heraus, das die Fristen vor einer Freigabe der Geheimarchive verlängerte. Offenbar gibt es einen Deal zwischen Lula und den Militärs.

Gab es keine öffentlichen Proteste dagegen?

Doch. Lula hat daraufhin eine interministerielle Arbeitsgruppe eingerichtet, um die Dokumente prüfen und reklassifizieren zu lassen, doch die ist nie zusammengetreten. Menschenrechtler haben außerdem vor gut einem Jahr ausgewählte Dokumente ins Nationalarchiv nach Brasília geschickt, doch auch hier ist nichts passiert. Und in den vier Jahren seiner Amtszeit hat Lula kein einziges Mal die Angehörigen der Verschwundenen empfangen. So etwas macht er nur in Peru oder in Uruguay.

Warum? Ist der öffentliche Druck in Brasilien geringer als in den Nachbarländern?

Ja. Das liegt auch an den Dimensionen der Gewalt: In Argentinien gab es etwa 30.000 Verschwundene, fast jede Familie dort hat wenigstens ein Opfer zu beklagen, und auch in Chile war die Brutalität enorm. In Brasilien dagegen gab es „nur“ 300 Verschwundene. Die brasilianischen Militärs haben zwar in den Nachbarländern die Doktrin der nationalen Sicherheit unterstützt und auch Foltermethoden vermittelt. Aber im eigenen Land sind sie sehr selektiv vorgegangen. Deswegen gibt es in Brasilien kaum Druck von unten.

Hat es unter Lula überhaupt Fortschritte in Sachen Menschenrechte gegeben?

Ja. Die Bevölkerung ist sich ihrer Rechte immer mehr bewusst. Die Brasilianer halten nicht mehr so still wie früher, sie fordern immer mehr ihre Rechte ein. Die wichtigste Aufgaben für Menschenrechtler ist, die Leute zu organisieren – vor allem in den Armenvierteln, wo es darum geht, für Zugang zu Trinkwasser oder eine Schule zu streiten.

Die Regierung Lula hat auch den Zuschuss „Bolsa Familia“ eingeführt, von dem über elf Millionen Familien in Armut profitieren: Sie bekommen bis zu 35 Euro im Monat. Ist das ein guter Ansatz?

Nein, dafür werden wir noch einen hohen Preis zahlen müssen. Viele Leute hören auf zu arbeiten, weil sie dieses Geld bekommen. Wenn das in Verbindung mit Ausbildungsprogrammen angeboten würde wie etwa in Uruguay – das wäre genial! Aber darum geht es nicht, sondern um Wählerstimmen. Es war die größte Wahlkampfhilfe für Lula.

Wie stellt sich die Lage der indianischen Urbevölkerung Brasiliens dar, der indígenas?

Wenn sie ihr Schicksal nicht selbst in die Hand genommen hätten, dann gäbe es heute keine Indianer in Brasilien mehr. Aber sie sind besonders stark vom Vormarsch der Eukalyptusmonokulturen betroffen, die für die Zelluloseproduktion angebaut werden. So wurden sie etwa im Januar 2006 im Bundesstaat Espírito Santo mit extremer Gewalt durch die Bundespolizei von ihrem angestammten Land vertrieben – ganz im Sinne des Zellstoffmultis Aracruz.

Was sagt die Regierung dazu?

Lulas Justizminister hat zwar zugesagt, ihnen offiziell neues Land zuzuweisen, aber bislang ist nichts geschehen. Erst im Dezember sind 20 Indianervertreter deswegen vier Tage lang in der Hauptstadt Brasília vorstellig geworden. Doch nicht einmal der Pförtner des Ministeriums hat sie empfangen.

Wie ist die Lage der schwarzen Bevölkerung? Es gibt für sie doch jetzt bessere Zugangsmöglichkeiten zu den öffentlichen Universitäten.

Marginalisierte gibt es unter Schwarzen, Indianern und Weißen. Gefragt wäre eine seriöse Politik der sozialen Integration, unabhängig von Hautfarbe oder Geschlecht. Die Schwarzen müssten auf öffentlichen Schulen eine gute Ausbildung bekommen, damit sie mit den Weißen konkurrieren und stolz auf ihre Leistungen an die Uni gehen können. Sie brauchen keine Almosen.

INTERVIEW: GERHARD DILGER