Selbstmord mittels reiner Klangvermehrung

Nur Rhythmus und Modulationen: Jean Echenoz schreibt einen eleganten Roman über den rätselhaften Musiker Maurice Ravel – und hält Kontakt zur experimentellen Literatur

Webern hört man doch selten, bemerkte neulich ein abgebrühter Freund. Anders als die moderne Malerei, wollte er sagen, die es mit Cézanne, Kandinsky, Klee, Pollock etc. wider alle Erwartungen zu einem Massenerfolg gebracht hat, erfreut die moderne Musik nur ein Spezialistenpublikum.

Dabei gibt es strahlende Ausnahmen. Der „Bolero“ von Maurice Ravel zum Beispiel. Er passt ins Konzert und ins Tanztheater ebenso wie in die Bar. Als Jüngling habe ich einen ganzen Sommer mit Ravels Streichquartett F-Dur zugebracht; keine Ahnung, welches Kino mein Kopf zu dieser Filmmusik abspielte – doch muss es lebhaft gewesen sein.

Maurice Ravel (1875–1937), klein, mager, stets picobello gekleidet und frisiert, von arroganter Höflichkeit, war schon zu Lebzeiten ein Star. So entnimmt man es dem elegant schmalen Roman von Jean Echenoz und mag keinen Augenblick zweifeln, dass jeder der wohlgeformten Sätze dokumentarisch belegbar ist.

Ununterbrochen Zigaretten rauchen. Die Schlaflosigkeit, die es irreparabel fördert, dass er dem Schlaf beim Entstehen beiwohnen möchte. Öffentliche Auftritte nur in Lackschuhen. Die Langeweile, in der er immer wieder auf Dauer versinkt. Vollständige Asexualität in beiderlei Hinsicht, aber intensive und rätselhafte Freundschaften. Die Überquerung des Atlantik in dem Luxusdampfer „France“, die Schrankkoffer voller Klamotten, Deckspaziergänge in weißem Waffelpikee. Die triumphale Amerikatour. Der Unfall in dem Taxi, der sein Gehirn langfristig zerstört, sodass er seinen Namen nicht mehr schreiben, seine Kompositionen nicht wiedererkennen kann. Man öffnet seinen Schädel und findet nichts Operables, zehn Tage später ist er tot.

Jean Echenoz erzählt das äußerst ökonomisch, in Protokollsätzen, auf kunstvolle Weise zusammenhanglos. Die ganze Zeit nährt der Leser seinen Verdacht, dass in diesem Erzählen Ravels Musik selber nachgebildet sein könnte; hier endlich das Kopfkino, das sie begleitet? Und dann landet man bei der Beschreibung des „Bolero“ und meint verstanden zu haben: keine Form im eigentlichen Sinn, ohne Entwicklung und Modulationen, nichts als Rhythmus und Arrangement. Eine Partitur ohne Musik, eine Orchesterfabrik ohne Thema, ein Selbstmord mittels reiner Klangvermehrung.

Mit Gusto denkt man es sich so, dass genau damit Jean Echenoz seinen Ravel-Roman beschreibt; der also zugleich eine Ravel-Performance ist. Dabei bleibt ohne Bedeutung, ob dem Leser die Zurechnung des Textes auf die Musik wirklich gelingt – so wie die dokumentarisch-biografische Wahrheit des Erzählens ohne Belang ist, ob der Erzähler sich tatsächlich strikt an die Fakten von Ravels Leben hält. Das elegante Buch setzt nachdrücklich die Imagination des Lesers in Bewegung – gleich habe ich noch mal das Streichquartett F-Dur angehört, auf der Suche nach dem Sommer aus der Vorvergangenheit; eine schön-ergebnislose Suche.

Literaturkritik soll stets etwas Grundsätzliches sagen. Jean Echenoz hält mit diesem Roman erfolgreich Kontakt zur experimentellen Literatur; keine Schwierigkeit, ihn als Metafiktion zu erkennen, als Erzählen über das Erzählen. Dabei bezweckt (bewirkt) er aber keine Entzauberung des Erzählens, alles sowieso bloß faule Tricks. Vielmehr macht er seinen Gegenstand, den rätselhaften Ravel und seine radikal moderne Musik, eben dadurch erst richtig fühlbar für die Einbildungskraft des Lesers. MICHAEL RUTSCHKY

Jean Echenoz: „Ravel“. Aus dem Französischen von Hinrich Schmid-Henkel. Berlin Verlag, Berlin 2007, 110 Seiten, 18 €