ARNO FRANK über GESCHÖPFE
: Rinderwahnsinn in New York

Warum mich erst der Anblick von Boris Becker von einem bösen Konsumfluch erlöste

Neulich stand ich unten an den alten Piers von Brooklyn und spähte hinüber nach Manhattan, das, so ganz ohne seine beiden Türme, auf einmal schrecklich langweilig aussah. Immerhin aber lag noch ein ganzer amerikanischer Tag vor mir, und ich hatte durchaus die Absicht, seine schier unbegrenzt schillernden Möglichkeiten voll auszunutzen. Ich suchte nach etwas, das ich mit nach Hause nehmen konnte, um meiner – wie soll ich sagen? – unwirklichen Bewegung im Raum den Charakter des Realen zu geben. „Souvenirjagd“ oder einfach „Konsumrausch“ klingt banaler, trifft’s aber noch besser.

Jedenfalls dauerte es nicht lange, bis ich staunend vor dem absolut unfassbarsten Mantel stand, den ich jemals gesehen hatte. In einem Modehaus an der Fifth Avenue war das. Kaum war ich eingetreten, hatte ich nur noch Augen für diese erhabene Komposition aus Leder und Fell. Unter einem eigenen Scheinwerfer prunkte das erhabene Kleidungsstück auf einem Gestell mitten im Raum, sodass ich es mit steigender Ehrfurcht und wachsender Gier mehrmals umkreisen konnte. Dunkelbrauner, dichter Pelz umhüllte Schultern und Kragen. Elfenbeinerne Zähne warteten darauf, in handgeknüpfte Schlaufen geknöpft zu werden, die mit Aufsätzen in das Leder gestanzt waren. Ein eigentümlich würdevoller Duft ging von diesem Mantel aus, ein animalisches Parfüm, das mir zuflüsterte: „Kauf mich! Oder probier mich wenigstens mal an!“

Also nahm ich all meinen Mut zusammen und den Mantel vom Bügel – es war, als würde sich ein weicher Panzer wie von selbst um meinen Körper legen. Ich konnte nicht fassen, dass von einem banalen Mantel eine solche Majestät ausgehen konnte! Ich hatte den Mantel meines Lebens gefunden und wusste, dass ich ihn nie, nie, nie wieder ausziehen würde. Nie. Wie in Trance drehte ich mich einmal um mich selbst – und stand plötzlich vor dem Verkäufer, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war: „May I help you, Sir?“

Noch einmal drehte ich mich um mich selbst und verkündete strahlend: „I really, really like this coat!“ Der Verkäufer aber schien meine Begeisterung nicht ganz zu teilen: „I’ve already noticed that, Sir“, sagte er und blieb dabei eigentümlich zurückhaltend. Mit leiser Stimme erklärte er mir, dass alles an diesem edlen Stück von einem Bison stammte. Die sechs unterschiedlich dicken und verschiedenartig bearbeiteten Lederapplikationen, der mollige Pelz, sogar die Knöpfe waren aus dem Horn dieses edelsten aller nordamerikanischen Paarhufer geschnitzt. Mein Herz tat mehrere Hüpfer, während der Verkäufer unbeeindruckt den Übermantel pries.

Er stamme von einem Tier ab, das während der letzten Eiszeit, vor etwa 18.000 Jahren, aus Asien über die zugefrorene Beringsee nach Amerika eingewandert war, um in gewaltigen Herden die großen Ebenen zu erobern. Der ganze Kontinent erbebte einst unter den Hufen des stolzen Buffalo – bis er vor etwa 10.000 Jahren auf die ersten Indianerstämme traf. Die edlen Wilden verwendeten nicht nur sein Fleisch als Nahrung, sondern gaben ein Exempel beispielloser Nachhaltigkeit: Aus dem Fell, den Sehnen und den Knochen des Bisons fertigten die Indianer ihre Decken, ihre Sättel, ihre Schilde, ihre Seile, ihren Leim, ihre Kissenfüllungen, ihr Geschirr, ihre Werkzeuge, ihre Tipis – und ihre Kleidung. Womit wir wieder bei meinem Wunschmantel waren, der jetzt natürlich schon so gut wie gekauft war. „How much is it?“, fragte ich benommen. Ja, ich blätterte in Gedanken schon mit großer Geste einige Hunderter auf die Theke, scheiß drauf, als mir der Verkäufer mit einem schmalen Lächeln den Preis nannte: „It’s 6.900 Dollar.“ Vielleicht lag es an meinem verrutschten Gesicht, aber diesmal sparte er sich das „Sir“.

Es dauerte lange, sehr lange, bis ich über diese Demütigung hinwegkommen und von dieser Enttäuschung geheilt sein sollte. Es war dann tatsächlich ein Moment der Erlösung, als wäre ein böser Bann von mir genommen, als ich Monate später in der Gala Boris Becker über irgendeinen roten Teppich laufen sah. Er trug meinen Mantel.

Fotohinweis: ARNO FRANK GESCHÖPFE Fragen zum Übermantel? kolumne@taz.de Morgen: Josef Winkler ZEITSCHLEIFE