Europa – das ist doch nebenan

AUS WEIDEN HEIKE HAARHOFF
UND BERND HARTUNG (FOTOS)

Draußen vor der Berufsschule Weiden wird gerade die Europafahne gehisst, da fährt auch schon ein staatsmännisch dunkler Wagen vor. Ihm entsteigt die bayerische Europaministerin Emilia Müller (CSU). Schulleiter Josef Weilhammer eilt ihr entgegen. Im langen grauen Rock und mit zünftiger Wolljacke sieht die Ministerin ein bisschen aus wie eine moderne Trachtenfigur.

Sie passt in das Bild, das Schulleiter Weilhammer gern zeichnet von sich und seiner Region. „Wir in der Oberpfalz“, erzählt er munter, „leben mit unseren Traditionen im Herzen Europas, das die Zukunft unserer Jugend ist.“ Und die Berufsschule Weiden, die sich selbst den Titel Europa-Berufsschule gegeben hat, ist die Bildungseinrichtung, in der Auszubildende tunlichst sein sollten, wollen sie an der europäischen Zukunft teilhaben. Daran lässt Josef Weilhammer keinen Zweifel.

Es ist dies ein ganz besonderer Montag für ihn. Die Kanzlerin hat in dieser Woche alle Schulen in Deutschland aufgerufen, einen EU-Projekttag zu veranstalten. Angela Merkel ist für sechs Monate EU-Ratspräsidentin – es liegt ihr viel daran, dass die Europäische Union, die bei vielen Bürgern als bürokratische, intransparente, verfassungslose, bürgerferne Institution in Verruf geraten ist, während dieser Zeit Öffentlichkeit bekommt. Eine möglichst konstruktive. Bis zum heutigen Mittwoch sind deswegen Bundes- und Landesminister, Abgeordnete des Bundestags und des Europaparlaments sowie Vertreter der Kirchen und deutsche Mitarbeiter aus der EU-Kommission unterwegs, um mit den Jugendlichen über Europa zu diskutieren.

Doch für Debatten ist in Weiden heute gar keine Zeit. Wochenlang mussten sich die 3.400 Berufsschülerinnen und -schüler auf Geheiß ihres Schulleiters Themenbereiche erschließen, die mit ihrem sonstigen Auszubildendenalltag als Bürokaufleute, Industriemechaniker, Bäcker oder Bauzeichner eher wenig zu tun haben. Jetzt soll die Ministerin sich zumindest mal anschauen, was für eine Mühe das war. Also lässt sich Emilia Müller, die zweieinhalb Stunden Zeit mitgebracht hat, im Fünfminutentakt von einer Klasse zur nächsten scheuchen.

Sie erfährt, dass die Auffassungen sowohl über Pünktlichkeit als auch über angemessene Kleidung in Griechenland und Deutschland variieren. Das haben die künftigen Groß- und Einzelhandelskaufleute der Projektgruppe „Sitten und Gebräuche in verschiedenen EU-Staaten“ herausgefunden. „Wir benötigen interkulturelle Kompetenz, um in Europa weiterzukommen“, schlussfolgert Emilia Müller. Im nächsten Raum hört die Ministerin, dass das deutsche Gesundheitssystem im europäischen Vergleich gar nicht so schlecht ist. „Sollte es denn dann ein einheitliches System für alle Mitgliedstaaten geben?“, fragt sie freundlich. Darüber haben die angehenden medizinischen Fachangestellten noch nicht wirklich nachgedacht.

Weiden in der Oberpfalz, 43.000 Einwohner, strukturschwach, demografisch überaltert, jahrzehntelang abgeschottet. Bekannt allenfalls unter Briefmarkensammlern: Das zentrale Versandzentrum Philatelie der Deutschen Post ist hier zu Hause. Die alte Bundesrepublik war in ihrem Bemühen, der Ödnis in den Zonenrandgebieten etwas Glanz zu verleihen, erfinderisch.

Bis zur tschechischen Grenze sind es 35 Kilometer. Die Arbeitslosenquote liegt bei 10,1 Prozent, 3 Prozentpunkte über dem bayerischen Landesdurchschnitt, sagt die Arbeitsagentur. Mit der EU-Osterweiterung seien die Mittel aus den europäischen Strukturfonds empfindlich geschrumpft, sagt der Bürgermeister. Es gebe jetzt ärmere Regionen innerhalb der Gemeinschaft, deren Förderung – relativ betrachtet – dringlicher sei, sagt der IHK-Geschäftsführer. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Arbeitnehmer unter 20 Jahren in Weiden sei in den vergangenen fünf Jahren um ein Drittel gesunken, sagt der städtische Wirtschaftsförderer. Ab 2011 fielen die Beschränkungen, die den Beschäftigten aus den neuen osteuropäischen EU-Staaten den Zutritt zum deutschen Arbeitsmarkt derzeit noch erschweren, sagt der Geschäftsführer der Euregio Egrensis, die die Zusammenarbeit im Grenzgebiet fördert. „Wenn wir unsere europäischen Partnerschulen besuchen, dann sind unsere Schüler sprachlich die schlechtesten – die sprechen nur Deutsch“, sagt ein Fachlehrer für Metallfertigungstechnik.

Es gibt Gründe, in Weiden über die EU zu diskutieren.

Josef Weilhammer drängt gerade die Ministerin zu den Mechatronikern im Nebenraum. Die hatten die Chance, im letzten Schuljahr an einem einwöchigen Austausch mit einer Partnerschule in der Slowakei teilzunehmen. Bohrvorrichtungen zur industriellen Serienfertigung haben die Deutsche und die Slowaken gemeinsam hergestellt – europäischer Unterricht im Wortsinn. „Super Kneipen da“, erinnert sich ein Mechatroniker. „Da sieht man, wie Europa zusammenwächst, nicht wahr?“, entgegnet Emilia Müller tapfer.

Es ist ja nicht so, dass sie hier einer großen Gruppe Ignoranten begegnen würde, die sich nicht beschäftigte mit ihrer Zukunft auf dem europäischen Arbeitsmarkt. Im Gegenteil. Wenn man einzelne Schüler anspricht, dann wissen die genau, welche Perspektiven sie haben. „Ich“, sagt beispielsweise die 17-jährige Friseurschülerin Anja Volkmer, „habe nach der Hauptschule natürlich erst mal keine Lehrstelle gefunden, und mit einer Festanstellung wird es später genauso schwer werden.“ Sie sagt das ohne Groll, eher so, als handele es sich um eine Banalität, weil es doch den meisten hier so geht.

Also hat sie ein Berufsvorbereitungsjahr für Friseure an einer privaten Schule absolviert und anschließend, weil sie immer noch niemand ausbilden mochte, ein weiteres Jahr für 400 Euro Monatslohn Ausschuss in einer Kunststoffspritzerei sortiert. Seit einem Jahr endlich lernt sie waschen, schneiden, fönen, und wenn man ihr zuschaut, wie sie Lockenwickler in Modellköpfe dreht oder sich mit ihren Schulfreundinnen über Haarlängen unterhält, kann man sich vorstellen, dass sie ihre Sache sehr gut macht. „Die Kunden“, sagt Anja Volkmer, „fahren aber trotzdem nach Tschechien. Dort kostet ein Haarschnitt 1,50 und die Dauerwelle 7 Euro“.

Qualität, Kompetenz, Fremdsprachen, Mobilität – das sind die vier Stichwörter, mit denen Schulleiter Weilhammer seine Schüler in solchen Fällen ermahnt: „Anders könnt’s ihr nicht bestehen tun.“ Die Berufsschule Weiden gibt sich alle Mühe, ihre Schüler auf die globalisierte Arbeitswelt vorzubereiten: Sie bietet nach dem regulären Unterricht Englischkurse an, Teilnahme freiwillig. Sie organisiert Austauschfahrten zu Partnerschulen in Frankreich, Österreich und Kroatien, neuerdings auch in die Slowakei und nach Tschechien, gerade ist eine Schülergruppe Mechatroniker aus Brno zu Gast in Weiden. Josef Weilhammer träumt von internationalen Ausbildungsklassen und europaweit harmonisierten Lehrplänen. Die Europaministerin findet, eine Angleichung der Abschlüsse sei auch schon ein schönes Ziel.

Julia Feichtner aus Kemnath hat andere Sorgen. Die 17-Jährige hat sich unter 400 Bewerbern durchgesetzt und einen der begehrten 16 Ausbildungsplätze als Mechatronikerin im örtlichen Siemens-Werk bekommen. Aber was, fragt sie sich jetzt, wenn das Werk eines Tages doch dichtmacht oder sich einen kostengünstigeren Standort im Osten sucht? „Ich würde nur sehr ungern weggehen von hier, von meiner Familie, meinen Freunden.“ Aber Tschechien ist doch Europa und nur einen Katzensprung entfernt, und in Prag wartet eines der modernsten Kfz-Werke des Kontinents? Sie guckt entsetzt. „Ich weiß, wie’s in Tschechien ausschaut.“ Die USA, sagt sie schließlich, die könne sie sich als Destination vorstellen, sollte sich in Deutschland keine berufliche Perspektive für sie ergeben. Die USA? Tausende Kilometer über den Atlantik? „Ja“, sagt Julia Feichtner und strahlt. „In den USA sind die Menschen gut drauf.“

Das unmittelbar Nachbarland ist für die wenigsten Berufsschüler aus der Oberpfalz eine berufliche Option. Viele von ihnen sind im Jahr des Mauerfalls oder später geboren. Doch das Vorurteil, dass an der ehemaligen Ostgrenze die zivilisierte Welt aufhöre, hält sich hartnäckig. Tschechien mag der größte Handelspartner Bayerns vor Italien sein; eine Chance mögen die wenigsten darin erkennen. „Der Wettbewerb mit denen zieht Deutschland bloß nach unten, weil die anderen billiger arbeiten“, glaubt der künftige Bauzeichner Simon Wild, 18 Jahre alt. „Wenn ich mir angucke, wie viel Steuergeld für diese Typen verwendet wird, dann macht mich das wütend.“ Vermutlich glaubt er, der Solidaritätsbeitrag fließe neuerdings auch in benachbarte EU-Staaten.

Ein bisschen so gedacht hat Gerd Köstler wohl auch, als er voriges Jahr mit seiner Klasse erstmals in die Slowakei fuhr. „Für uns“, sagt der 19-jährige Mechatroniker im dritten Ausbildungsjahr, „war die Slowakei ein Land, naja“, er wird ein bisschen rot, „also so nach dem Motto: die Menschen schlecht gekleidet und die Straßen dreckig.“ Die meisten seien ohnehin nur zu dem Austausch mitgekommen, „weil das für uns hieß, dass wir schulfrei hatten“. Dass dann alles ganz anders war als erwartet, beschämt ihn heute noch. „Vor allem, wie freundlich die waren, wie gut die sich untereinander verstanden haben.“

Gerd Köstler war so angetan von dem Besuch und den Gegenbesuchen der Slowaken, dass er sich mittlerweile sogar vorstellen könnte, den Radius seiner Jobsuche eventuell nach Osten auszudehnen. Wäre da nicht neuerdings das Gefühl, den Ansprüchen der osteuropäischen Nachbarn möglicherweise nicht genügen zu können: „Die Slowaken sind viel besser auf den europäischen Binnenmarkt vorbereitet als wir“, hat Gerd Köstler erstaunt festgestellt, „sie sprechen Deutsch, sie kennen unser politisches System“. Umgekehrt könne er das nicht von sich behaupten. „Aber“, sagt er zwinkernd, „meine Ausbildung ist ja noch nicht zu Ende.“