Der neue Stefan Kuntz

■ Das Doppelleben des Ex-Europameisters: Viertligatrainer und Fernsehkommentator

Soll noch einer sagen, zu viel Fernsehen macht dumm. Stefan Kuntz (36) sieht das anders, nicht erst, seit ihm tm3 Gehalt zahlt. Manchmal kann Fernsehen richtig nützlich sein. Im Frühjahr war es, da lag Kuntz vor der Partie gegen Hertha BSC im Hotelzimmer und zappte. Nach einem Bänderriss stand das Comeback im Bochumer Team bevor. Doch die Glotze veränderte sein Leben: „In „Sport unter der Lupe“ zeigten sie den Rücktritt von Wayne Gretzky; im nächsten Kanal gab Katja Seizinger ihr Karriereende bekannt, und Kuntz fragte sich: „Warum geht dir das so nahe?“ Bald wusste er es: Seine Zeit als Profikicker war vorbei. Der Kommentar seiner Frau: Gott sei Dank. Sie hatte es ihm schon wochenlang angesehen.

Stefan Kuntz, die ehrliche Haut: sensibel, harmoniebedürftig, wie er selbst sagt. Einer, der nie schauspielern konnte. Auf dem Platz ein Renner und Kämpfer. Keiner jubelte so wie Kuntz: Am Zaun, ganz nah bei den Fans, hing er nach einem Treffer. Die „Säge“ hat er kreiert. Was macht so einer danach, ohne Fußball? Die einen werden Co-Kommentator, die anderen Trainer. Kuntz macht beides. „Meine Frau sagt: viermal Training, zwei Tage Champions-League – es ist wie früher.“ Mit dem Unterschied, dass er sich dabei jetzt mit anderen befasst.

Kuntz' Wochenplan hat sich geändert: Auf dem Hinflug Vorbereitung auf den FC Barcelona und Stürmerstar Luis Filipe Figo, auf dem Rückflug Gedanken zur Partie gegen TuS Koblenz und zu André Schmitt. Der ist 20 Jahre alt, Zivi im St-Josefs-Krankenhaus und der Rechtsaußen von Stefan Kuntz. Oder vielmehr der von Borussia Neunkirchen, dem Tabellenführer der Oberliga Südwest. Seit Kuntz vor zwei Wochen als Trainer in der saarländischen Heimat anheuerte, ist sein Name mit der Zukunft des Vereins verbunden. „Borussia mit Stefan Kuntz ins neue Jahrtausend“ steht hoffnungsfroh auf der Internetseite des Klubs.

Borussia Neunkirchen lebt von der Tradition. Gründungsmitglied der Bundesliga, 54 Jahre erstklassig, 14 Nationalspieler: 2 für Deutschland, 12 für das Saarland. Lange her. 1981 stieg die Borussia aus der 2. Liga ab, ein 17-Jähriger namens Jay Jay Okocha blieb nicht lange; der letzte Triumph ist drei Jahre her: der Gewinn des Saarlandpokals. Schlagzeilen heute: hohe Schulden, strukturschwaches Umfeld, der 1. FC Saarbrükken als Nachbar, viele Arbeitslose in der Bergbaustadt – keine idealen Voraussetzungen für den Start eines neuen Lebensabschnitts.

Stefan Kuntz ist hier zu Hause. 36 Tore schoss er in der Oberliga-saison 1983 für die Borussia. Die Umkleidekabinen im baufälligen Ellenfeldstadion kennt er seit der E-Jugend. „Übungsleiter sind für den ordnungsgemäßen Zustand der Kabinen verantwortlich“ steht dort, wo sich die Spieler den Schlamm der Hartplätze abduschen. Wie ein Junger ist Kuntz beim Aufwärmspiel 5 gegen 2 dabei, lobt und tadelt lautstark. Schon in seiner aktiven Zeit hatte er die ersten Trainerscheine gemacht; nun folgt der Kurzlehrgang für verdiente Nationalspieler.

Zum Start der nächsten Saison will er die Lizenz erworben haben. „Das Ziel ist Bundesliga, klar“, sagt der Ehrgeizige. Dafür arbeitet er detailversessen. Beim Dienstantritt in Neunkirchen versprach er: „Wenn ich in einer Woche noch einen Namen verwechsle, zahle ich in die Mannschaftskasse.“ Kuntz paukte alle 25 Namen, ließ sich von seiner Frau abhören. Zahlen brauchte er nicht. Gegen den SV Prüm kamen 650 Zuschauer, Neunkirchen gewann 2:1, Schütze des Siegtors: André Schmitt.

Manchmal juckt es den Europameister Kuntz schon noch im Fußballstiefel. Am Wochenende geht es gegen die SpVgg Wirges, dienstags nach Porto. Aber die große Bühne braucht er nicht mehr. Kürzlich, als er in Dortmund vor dem Spiel aus der VIP-Lounge ins ausverkaufte Stadion und hinab auf den Rasen blickte, da fragte er kurz in sich hinein: „Und? Lust zu spielen?“ Als Antwort kam ein entschlossenes „Nein“. Und er war froh darüber. Thomas Becker