"Wer atmet, furzt auch mal"

■ Edgar Hilsenrath ist einer der wichtigsten und vermutlich auchverkannteste Vertreter deutschsprachiger Nachkriegsliteratur. Heute abend bekommt er den Hans-Sahl-Preis verliehen

Edgar Hilsenrath wurde 1926 in Leipzig geboren. 1938 mußte er Deutschland verlassen. Er lebte in Rumänien, Palästina, Frankreich und den USA, bevor er 1975 nach Berlin ging. 1964 debütierte er mit seinem Roman „Nacht“, in dem er die Gnadenlosigkeit des täglichen Überlebens in einem rumänischen Ghetto schildert. Der Durchbruch gelang ihm 1977 mit „Der Nazi und der Friseur“, einem bitterbösen Vexierspiel von Täter und Opfer. Für „Das Märchen vom letzten Gedanken“, seinen poetischsten Roman, erhielt Hilsenrath 1989 den Alfred- Döblin-Preis.

taz: Hans Sahl ist ein deutsch- jüdischer Schriftsteller, der wie Sie Jahrzehnte im amerikanischen Exil verbracht hat. Sind Sie ihm eigentlich mal begegnet?

Edgar Hilsenrath: Einmal, nach einer Lesung im Goethe-Institut. Aber wir pflegten keinen persönlichen Kontakt. Ich habe allerdings gehört, daß er mehrere Exemplare meines New-York-Romans gekauft hat.

Sahl war also Hilsenrath-Fan?

Jedenfalls einer von „Bronkys Geständnis“.

Wann begann Ihr Exil?

1938, als ich zwölf war, schickte mein Vater uns nach Rumänien, in die Bukowina, nach Sereth, in eine kleine jüdische Stadt, wo wir Angehörige hatten. Er selbst wollte später nachkommen, doch das gelang ihm nicht mehr.

Sereth und seinen Menschen haben Sie in dem Roman „Jossel Wassermanns Heimkehr“ ein Denkmal gesetzt...

Obwohl es dort Prohodna heißt. Sereth war österreichisch geprägt, das Leben geruhsam wie zu k.u.k. Zeiten. Alle um mich herum sprachen Deutsch. Sereth war nie Exil, vielmehr verbrachte ich dort den schönsten Teil meiner Jugend. 1941 hörte die Idylle mit einem Schlag auf. Die Bevölkerung wurde deportiert. Wir kamen in die Ukraine, auf die andere Seite vom Dnestr, ins Ghetto. Die nächsten drei Jahre gab es Massenerschießungen, Hunger, Typhus und Kälte. Meine Mutter, mein Bruder und ich überlebten. 1944 befreite uns die Rote Armee. Ich marschierte hinter der Front her, bis Bukarest, das kurz zuvor kapituliert hatte. Von dort aus reiste ich mit einem jüdischen Flüchtlingstransport nach Palästina. Man steckte mich in einen Kibbuz. Ich zog Haifa vor, wo ich als Tellerwäscher und Bauarbeiter jobbte. 1947 fuhr ich nach Frankreich, zu meinem Vater, der den Krieg getrennt von uns überlebt hatte und nun in Lyon war. Dort traf ich auch Mutter und Bruder wieder, die sich inzwischen dahin durchgeschlagen hatten. Dort blieb ich, bis ich 1951 nach Amerika auswanderte.In New York begann das eigentliche Exil: In einer völlig fremden Umgebung, abgeschnitten von meiner Sprache. Ich hatte bloß ein Ziel: Meinen angefangenen Ghetto-Roman zu Ende zu schreiben. Um Zeit dafür zu haben, machte ich nur Halbtags- und Wochenendjobs. Ich tat nichts, außer an der „Nacht“ zu arbeiten.

An diesem Buch haben Sie länger geschrieben als an irgendeinem späteren Roman.

Ungefähr zwölf Jahre und 20 Fassungen lang. Als ich anfing, noch in Frankreich, hatte ich gerade Remarques „Arc de Triomphe“ gelesen. Der hat mich so begeistert, daß meine ersten Kapitel völlig von Remarque inspiriert waren. Doch dann habe ich mich frei geschrieben...

„Nacht“ war der literarische Non-event des Jahres 1964.

Es ist kein gefälliges Buch, sondern eine Chronik des physischen und moralischen Zerfalls. So, wie ich es mit angesehen habe. Obwohl ich im Ghetto zu den relativ Privilegierten gehörte. Kindler hatte kein Vertrauen und brachte das Buch ohne jede Werbung heraus. So ging es komplett unter. Angeblich wurden ganze 700 Stück verkauft...

Mit Ihrem zweiten Roman „Der Nazi und der Friseur“ gelang 1977 der Durchbruch.

Anfangs wollte kein Mensch das Buch drucken. Es dauerte fast zehn Jahre, bis sich ein deutscher Verleger dafür fand. Noch 1994, als es in einem kleinen Verlag in Israel erschien, überschlug sich die Kritik. Dürfen Juden so über jüdische Opfer und ihre Mörder schreiben? Roman Frister warf mir vor, das Leid der Toten zu verhöhnen. Aber das ist großer Quatsch. Er hat nicht verstanden, daß es eine Satire ist.

„Jossel Wassermann“ ist auch satirisch. Scheinbar voller antisemitischer Vorurteile übers Schtetl und seine Bewohner. Aber es ging mir darum, die Welt der Untergegangenen aus der Sicht der Lebenden zu zeigen. Menschen, die nicht wissen, welches Schicksal sie erwartet. Gegenwärtig eben, ohne falschen Respekt und verlogene Pietät. Wer atmet, der furzt auch mal.

1975, fast 40 Jahre nachdem Sie aus Deutschland vertrieben wurden, sind Sie hierher zurückgekehrt.

Ich sehnte mich nach dem Land meiner Sprache, vor allem seinen Büchern. Außerdem hatte ich nie das Gefühl, daß meine Themen die Amerikaner sonderlich interessierten. Falls sich jemand dafür interessierte, waren es Deutsche und Juden. Zwar habe ich immer deutsch gelesen und gedacht, aber es hat mir fürchterlich gefehlt. Natürlich kehrte ich mit zwiespältigen Gefühlen zurück. Die ältere Generation blieb mir suspekt. Gegenüber Jüngeren hatte ich weniger Vorbehalte.

In Berlin sind die meisten Ihrer übrigen Bücher entstanden. Inzwischen leben Sie her fast so lange wie in New York. War Berlin eine Rückkehr aus dem Exil?

Diese Stadt hat mir gutgetan. Aber wenn es je so etwas wie Heimat für mich gab, war es Sereth. Das existiert nicht mehr.

Was ist Ihr nächstes Projekt?

Möglicherweise ein Text über meine Rückkehr nach Deutschland.

Und der nächste Preis? Dies ist Ihr fünfter...

Vielleicht erst Büchner, dann Nobel... Interview: Christoph Ernst

Die Ehrung ist um 18 Uhr im Literaturhaus in der Fasanenstr. 23