■ Alle stellen sie, wir beantworten sie, die Frage:
: Wie das Gras in die Flasche kommt

Jeder kennt sie, die „Zubrówka“-Flasche mit dem „Bison Brand Vodka“ aus Polen, der in gutsortierten Supermarktregalen auch hierzulande anzutreffen ist; die hiesige Markenbezeichnung lautet jedoch, aus naheliegenden Gründen, auf „Grasovka“. Und jeder kennt auch das Markenzeichen: „Nur echt mit dem Büffelgrashalm“. Denn tatsächlich: In jeder dieser Flaschen schwimmt ein grasgrüner Grashalm. Allerdings haben sich die wenigsten je gefragt, wie denn eigentlich der Halm in die Flasche kommt. Das wollen wir an dieser Stelle nachholen und, siehe da!: Die Antwort ist genauso einfach wie verblüffend...

Abgefüllt wird „Zubrówka“ in Siedlce, einer mittelgroßen, teilweise noch antiken Stadt, irgendwo auf halber Strecke zwischen Warschau und der belorussischen Grenze. Man gelangt von Warschau aus über die Europastraße 30 nach Siedlce, deren Route als mittelalterlicher Handelsweg von jeher die Städte Warschau und Minsk verbindet. Auch heute ist die Strecke wieder im Begriff, eine der bedeutendsten Achsen im Ost- West-Handel zu werden.

Bereits wenige Kilometer hinter Warschau verändert sich die Vegetation, und die Landschaft öffnet sich zu einer schier endlosen Tundrasteppe. Früher sollen hier an die zwei Millionen Büffel ihr Unwesen getrieben haben. Bis die ersten Siedler aus dem Westen mit ihren Handfeuerwaffen kamen und – rein zum Vergnügen – die Bestände drastisch dezimierten. Selbst heute, obwohl die Jagd längst verboten ist und es eigens eingerichtete Reservate und Zuchtstationen gibt, sind nur noch wenige hundert Büffelpaare in der Region um Siedlce anzutreffen.

Gering ist auch die Zahl der Pflanzen, denen es gelang, sich in den schwierigen klimatischen Bedingungen der Gegend anzupassen; am erfolgreichsten noch der „Lochartigen Segge“ (Cárex loliácea), die das weite Land flächendeckend überwuchert. Wegen ihrer beispiellosen Durchsetzungsfähigkeit und weil sie dereinst den Büffeln als Nahrung dienten, heißen die robusten Halme im Volksmund nur „Büffelgras“.

Dem Reisenden, der sich der Wodkametropole nähert, fällt bereits einige Kilometer vor der Stadt jenes gleißend sich ausbreitende Meer aus reflektierendem Glas auf, das bei günstigen Lichtverhältnissen einen fast überirdischen Glanz abwirft und die Silhouette der Stadt in die schillerndsten Regenbogenfarben taucht. Bei näherem Hinsehen entpuppt sich die spiegelnde Fläche als zusammengesetzt aus tausend und abertausend einzelnen Glasflaschen, die umgekehrt bis zum Schaft in den morastigen Tundraboden versenkt sind – ein atemberaubendes Naturschauspiel!

Alina Becherovka, die in Siedlce die Oberaufsicht sowohl über die Ausbringung der Flaschen im Frühjahr als über das herbstliche Einsammeln innehat, erläutert: „Wir müssen die Flaschen im Frühling verteilen, wenn der Boden gerade so weit angetaut ist, daß der Flaschenhals darin Halt findet, aber das Gras noch nicht die Oberfläche durchstoßen hat. Dann sehen wir zu, wie der Grashalm hineinwächst, und im Herbst sammeln wir alle Flaschen wieder ein. Dabei muß man aufpassen, daß man den Grashalm mit erwischt, daß er nicht wieder hinausflutscht... Wie gesagt, im Herbst müssen wir den richtigen Zeitpunkt abpassen, bevor der Boden wieder einfriert, sonst bekommen wir die Flaschen nicht mehr heraus und müssen bis zum nächsten Jahr warten. Das setzt eine Menge Erfahrung voraus. Der Büffelgrashalmstecher ist ein uraltes traditionelles Handwerk, das hierzulande von Generation zu Generation weitergereicht wird. Mein Vater war Büffelgrashalmstecher, und meine Urgroßmutter mütterlicherseits war es auch.“

Büffelgrashalmstecher, also – so heißt des Rätsels Lösung. Die Frage ist nur, wie lange noch; sprich, wie lange es sie in der Region um Siedlce noch geben wird. Denn auch diese traditionelle Handwerkskunst aus dem Osten Polens sieht sich, wie so viele andere, bedroht durch zunehmend industrielle Produktionsweisen und die Konkurrenz aus den Billiglohnländern. Vielleicht sollte man daran auch einmal einen Gedanken verschwenden, wenn man das nächste Mal unachtsam eine Flasche des wohlschmeckenden Hochprozentigen in sich hineinkippt. Holm Friebe