Sie werden geschunden, gedemütigt und bestialisch gequält. Solchen Menschen versucht das Berliner Behandlungszentrum für Folteropfer zu helfen. Ute Scheub sprach mit der Körperpsychotherapeutin Sylvia Karcher und der Ärztin Mechthild Wenk-A

Sie werden geschunden, gedemütigt und bestialisch gequält. Solchen Menschen versucht das Berliner Behandlungszentrum für Folteropfer zu helfen. Ute Scheub sprach mit der Körperpsychotherapeutin Sylvia Karcher und der Ärztin Mechthild Wenk-Ansohn über die eigenen Probleme bei der Arbeit und die Schwierigkeiten der PatientInnen, nach den traumatischen Erfahrungen zurück ins Leben zu finden.

„Auch Gefolterte haben Würde und Schönheit“

taz: Am Tag der offenen Tür Ihres Zentrums haben Sie Ihren ehemaligen Patienten Hundee Hurriso in einem Hörsaal von seinem Martyrium erzählen lassen: Er stand am Pult mit zitternden Händen, mit versagender Stimme. Der äthiopische Journalist schilderte, wie er 1980 festgenommen und in seiner elfjährigen Haft immer wieder schwer gefoltert wurde.

Sylvia Karcher: Für ihn war das sicher auch eine Feuerprobe, zum erstenmal vor Berufskollegen öffentlich aufzutreten. Bei unseren Therapiestunden wirkte er zuletzt ziemlich stabil, und ich war auch erschrocken, wie brüchig seine Stimme war. Aber er war froh, daß er es gewagt hatte. Es war ein weiterer Schritt zur Genesung.

Er sagte, seine Behandlung habe besonders lang gedauert: drei Jahre.

Karcher: Andere Patienten sind inzwischen ebenso lange hier. Aber er war einer unserer ersten Patienten. Bei der Tiefe der Verletzungen ist es kein Wunder, daß die Therapien so lange dauern. Auch der Ablösungsprozeß dauert lange. Weil über die Jahre viel Bindung entstanden ist, braucht es dann auch Zeit, um sich wieder zu trennen.

War das auch bei Herrn Hundee so?

Karcher: Ja. Als er seine Therapie bei mir eigentlich schon beendet hatte, kam er eine Woche später wieder mit einem verletzten Meniskus auf Krücken angehumpelt und brauchte eine Nachbehandlung. Zuerst war das schrecklich für ihn, dann konnten wir drüber lachen. Für mich war das ein beeindruckendes Beispiel, wie sich jemand unbewußt den richtigen Zeitpunkt auswählt, an dem er keine Krücken mehr braucht, um wieder allein zu gehen. Im übrigen bieten wir allen Patienten nach Behandlungsabschluß an, jederzeit zurückkommen zu können.

Mechthild Wenk-Ansohn: Das ist auch in anderer Hinsicht notwendig. Unsere Patienten haben sehr viele Greuel erlebt. Wenn sie nun von einem ausländerfeindlichen Anschlag hören oder von einem schlimmen Ereignis in ihrer Heimat oder wenn sie auf Ämtern diskriminierend behandelt werden, dann werden sie oftmals regelrecht retraumatisiert. All ihre Symptome und Ängste verstärken sich wieder und können zu Panik ausarten. So wie bei einem unserer Patienten, der einen Brandanschlag erlebte.

Wirft das den Behandlungsprozeß zurück?

Wenk-Ansohn: Ja. Vielleicht hat sich ein Patient gerade ein bißchen entspannen können, und dann wird das Selbstvertrauen wieder völlig zerstört. Im Grunde fangen wir immer wieder von vorne an. Das ist Sisyphusarbeit.

Sie, Frau Karcher, sind Krankengymnastin und Therapeutin für Konzentrative Bewegungstherapie, also Körperpsychotherapeutin. Wie behandeln Sie?

Karcher: Ich arbeite sehr eng an den Symptomen, an den Schmerzen der Patienten, an ihren Körpergrenzen. Ich versuche ihnen ganz basale Körpererfahrungen im Liegen, Sitzen, Stehen und Gehen zu vermitteln.

Viele Patienten erlebe ich als sehr eng in ihren Atemräumen und in ihrer Körperhaltung. Sie gehen mit eingezogenen Schultern, schauen zu Boden, scheuen den Blickkontakt. Sie haben die Fähigkeit verloren, sich innerlich und äußerlich auszubreiten, sich Raum zu nehmen, etwas zu fordern. Ich arbeite mit ihnen daran, diese Räume wiederzugewinnen.

Was machen Sie mit diesen Bällen, Steinen und Seilen, die hier herumliegen?

Karcher: Diese Gegenstände können die Patienten benutzen, um ihre Schmerzen oder den Druck, den sie fühlen, darzustellen. Manche empfinden ihre Schmerzen wie Steine oder Felsbrocken auf ihrer Brust oder erleben sich wie abgeschnürt um den Hals oder die Handgelenke. Wenn sie die Steine in die Hände nehmen, können diese in ihrer subjektiven Wahrnehmung wärmer oder leichter werden oder angenehme Gefühle erzeugen. Auch der Druck auf der Brust mindert sich womöglich. Genauso kann ich meine Hände auf die schmerzenden Stellen der Patienten legen, und sie können diese Zuwendung als Linderung erleben. Oder sie nehmen selber ihre Füße in ihre Hände und fühlen: Die sind zwar geschlagen worden, ich stehe zwar wackelig, aber ich stehe, ich gehe einen ersten Schritt. Das ist basale Arbeit und Ressourcenarbeit: die Quellen der eigenen Kraft wieder freizulegen.

Und woher nehmen Sie die dafür nötige Stärke?

Karcher: Ich versuche gut mit mir umzugehen. Ich nehme selber alle zwei Wochen Körpertherapiestunden, da werde ich selbst liebevoll angefaßt, kann auch mal den Kopf in andere Hände legen und heulen. Ich schaue auch, daß ich meine Freizeit gut gestalte und nicht immer Bücher über Folter lese...

Haben Sie das früher gemacht?

Karcher: Als wir hier angefangen haben, hatten wir alle keine Erfahrung im Umgang mit Folteropfern. Also habe ich viel gelesen, wie Holocaust-Überlebende behandelt werden, wie andere Zentren arbeiten. Dann bekam ich das Gefühl, das Thema überschwemmt mein Leben, die Gespräche mit meinen Freunden, meine Träume. Zur Durcharbeitung dieser Träume habe ich mir ebenfalls therapeutische Hilfe besorgt. Und so lernte ich langsam die Abgrenzung. Ich lerne sie immer noch, immer wieder aufs neue. Unsere Patienten werden die Folter ihr Leben lang nicht mehr los. Und für uns ist das in etwas anderer Weise ebenfalls ein Lebensthema.

Sie, Frau Wenk-Ansohn, sind Ärztin mit Schwerpunkt Psychosomatik und Atemtherapie. Was machen Sie mit Ihren Patienten?

Wenk-Ansohn: Als Ärztin bin ich verantwortlich für die Erstuntersuchungen von Patienten. Ich erhebe eine genaue Anamnese, führe diagnostische Maßnahmen durch, um Symptome und Verletzungsfolgen einzuordnen, und leite dann die medizinische und psychosomatische Behandlung ein. Wenn ein Patient sich noch im Asylverfahren befindet und er es wünscht, schreibe ich eine ärztliche Stellungnahme für sein Asylverfahren, in der ich körperliche und seelische Folterspuren bezeuge, die ich bei ihm festgestellt habe. Außerdem habe ich einige Langzeitpatienten.

Es kann nicht einfach sein, dies auszuhalten.

Wenk-Ansohn: Bei allen Schwierigkeiten – für mich ist der Umgang mit diesen Menschen etwas, woraus ich auch Kraft schöpfe. Da ist ein Kontakt, da kommt etwas zurück, da ist viel Bereicherung durch eine andere Kultur. Und diesem Reichtum nachzuspüren in Gesprächen und durch körperliche oder bildnerische Darstellung, das sind auch ungeheuer schöne Situationen. Wenn wirklich ein Kontakt zustande kommt, dann entsteht Energie. Ich bin da mit meiner ganzen Person, der andere Mensch ist da mit seiner ganzen Person, und das macht mich sehr glücklich.

Karcher: Es ist auch sehr schön, wenn man beim Abschied spontan umarmt wird. Oder gemeinsam lacht. Die gefolterten Menschen sitzen ja zum Glück nicht total verstümmelt vor uns, sondern in ihrer ganzen Würde und Schönheit. Die Kurdin mit ihrem schönen blauen Rock und ihrer Ausstrahlung...

Ihre Ausstrahlung hat sie trotz der Folter bewahrt?

Karcher: Ja. Und dann erzählen die Patienten, wie es in ihrem Dorf aussieht, wie sie gelebt haben...

Wenk-Ansohn: ...von Gerüchen, Liedern, Blumen... Wir arbeiten daran, daß sie sich daran wieder erinnern, um zu ihrer eigenen Kraft zurückzufinden. Ihr Leben ist sehr oft ab jenem Zeitpunkt, an dem die Folter begann, wie abgeschnitten. Alles ist weg. Und dann müssen wir gemeinsam wieder den Bogen finden zu dem, was vorher war. Ich habe einmal eine Patientin gefragt, wo denn ein sicherer Ort für sie wäre. Und sie antwortete, es gebe keinen. Höchstens hier das Zentrum. In ihrem Heim fühle sie sich weder sicher noch heimisch. Sie verging, wie so viele, fast vor Heimweh. Und dann fand sie in ihrer Phantasie einen Ort, der ihrem Heimatdorf ähnelt, und malte den. Ihre vorherigen Bilder waren nur schwarz und dunkel, und dann entstanden Farben. Nun hatte sie einen Ort, wo sie auch hinkonnte, wenn wir wieder an den traumatischen Situationen arbeiteten. Diese inneren Bilder kann ihr jetzt niemand mehr nehmen.

Karcher: Wir fragen manchmal: Was hat Ihnen die Kraft gegeben, die Folter zu überleben? Das waren vielleicht die Kinder zu Hause oder es war der Koran oder das Dorf. Also ganz elementare Dinge. Und in der Therapie entstehen diese Bilder wieder. Herr Hundee hatte eine sehr leise Stimme, er sprach immer in sich hinein. Und dann bat ich ihn, sich an meine große Trommel zu setzen und etwas in seiner Oromo-Sprache zu erzählen. Mit dieser Trommel hat er geredet und erzählt und erzählt, und dann erinnerte er sich wieder an die Regenprozession in seinen Heimatbergen, an seine afrikanischen Lieder. Er kam wieder in Kontakt mit seinen Ressourcen. Wir alle, jeder von uns, hat solche Ressourcen. Klänge, Gerüche, Märchen...

Hat sich Ihr Leben durch die Arbeit verändert?

Wenk-Ansohn: Durch diese Arbeit hier nehme ich das Leben viel mehr wahr. Auch früher ging mir das schon so, als ich Krebspatienten betreut habe. Trotz allem, was ich hier höre, freue ich mich an meinen Kinder oder meinen Freunden. Mir ist vollkommen klar, daß unsere ganze Arbeit nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist. Aber ich habe ein bestimmtes Maß, was ich tun kann, und das versuche ich zu tun. Ich denke nicht mehr, ich muß mich ununterbrochen engagieren. Ich muß mein Maß finden.

Das klingt einfacher, als es wahrscheinlich ist.

Wenk-Ansohn: Das ist oft schwierig, zum Beispiel in Notfällen oder wenn eine Abschiebung droht. Aber wenn ich meine eigenen Grenzen nicht mehr wahrnehme und noch schnell-schnell was mache, dann bin ich nicht mehr bei mir. Da sind die Kollegen sehr wichtig, die sagen: Stop! So weh es tut, es geht nicht. Ein Alarmsignal ist auch, wenn ich nicht nur einmal von der Arbeit träume, weil mich etwas besonders berührt hat, sondern ständig. Dann muß ich ganz stark aufräumen in meinem Alltag. Deshalb versuche ich, mir nach jeder Behandlung die Zeit zu nehmen, aufzuschreiben, was passiert ist, oder es einem Kollegen zu erzählen. Und in dieser halben Stunde, bevor der nächste Patient kommt, mich wieder selber zu spüren, meinen eigenen Körper. Weil das Zeit braucht, können wir auch nicht viele Patienten gleichzeitig behandeln. Wir brauchen Zeit für die Patienten und für uns.

Kann Humor heilen?

Wenk-Ansohn: Ich denke, schon. Die Fähigkeit, sich zu freuen, die eigene Lebendigkeit zu bewahren, kann auch immer wieder einen Energieschub auslösen.

Karcher: Für mich heißt Lebendigkeit auch: traurig oder wütend sein zu können. Zu den Kollegen zu kommen und loszuheulen. Damit ich selber im Fluß bleibe und nicht alles nur in mich reinfresse und in meinem Inneren staue. Im Idealfall setze ich mich nach einer Behandlung hin und schreibe im Protokoll auf, was passiert ist, auch, um es loszuwerden, die Akte abheften zu können. Das geht längst nicht immer. Die Unterstützung der Kollegen, das Mitteilenkönnen, ist sehr wichtig.

Haben Sie eine gemeinsame Supervision?

Karcher: Ja. Mit dem Supervisor reden wir alle paar Wochen über Patienten, die uns besonders nahegehen oder besonders fern bleiben, mit denen der Kontakt schwierig ist. Außerdem haben wir eine Team-Supervision: Hier geht es um die Spannungen im Team, denn die Ängste und Konflikte, die die Patienten mitbringen, übertragen sich auf uns, natürlich haben wir auch Probleme miteinander.

So groß können die nicht sein. Als ich hier reinkam, hatte ich das Gefühl, hier herrscht eine gute, eine besondere Atmosphäre.

Wenk-Ansohn: Ich finde, es gelingt uns ganz gut, Räume für die Austragung unserer Spannungen zu schaffen. Einen Raum für die Therapie, den anderen für den Austausch, wieder einen anderen für die Konflikte. Das ist für unsere Arbeit sehr wichtig. All unsere Patienten waren in der Folter mit Grenzverletzungen konfrontiert. Also haben wir unsere Grenzen zu wahren, ihnen nichts überzustülpen, den anderen als Person in seinem Raum wahrzunehmen. Und dabei durchaus Gefühle zu zeigen. Wenn mich etwas besonders berührt, gestatte ich mir auch mal, meine Traurigkeit zu zeigen und in der Therapiestunde zu weinen.

Sie sagten vorhin, Ihre Arbeit sei ein Tropfen auf den heißen Stein. Wie viele Flüchtlinge sind behandlungsbedürftig?

Karcher: 20 bis 25 Prozent aller Flüchtlinge haben Foltererfahrungen hinter sich.

Wenk-Ansohn: Für Deutschland gibt es keine genauen Zahlen, aber die Quote von 15 bis 35 Prozent wird für andere Länder genannt. Wahrscheinlich sind diese Zahlen eher noch zu niedrig. Viele verschweigen ihre Erfahrungen aus Scham. Bei mir war eine Kurdin, die mehrfach vergewaltigt wurde. Und ich fragte: „Wie ist das seit der Folter?“ Sie darauf: „Ich bin doch nicht gefoltert worden.“ Sie hat das weder als Folter gewertet noch in ihr Asylverfahren eingebracht.

Karcher: Auch fast alle Männer sind vergewaltigt worden durch andere Männer, durch Aufseher. Das ist noch schambesetzter. Darüber wird überhaupt nicht geredet.

Wenk-Ansohn: Die Menschen erzählen in ihrer Anhörung meist nur über Haftzeiten, selten detailliert über Folter. Es gelingt ihnen kaum, schlüssig ihre gesamte Verfolgung darzustellen, mit den schlimmen Szenen, die sie erlebt und gesehen haben. Dieses Phänomen hat viele Ursachen. Eine wesentliche ist, daß bei gefolterten Menschen oft Konzentrations- und Gedächtnisstörungen bestehen, das sind typische Symptome der sogenannten posttraumatischen Belastungsstörung. Dazu kommen große Schamgefühle.

Karcher: Und wenn dann auch noch Frauen von Männern angehört werden, erzählen sie erst recht nichts von Vergewaltigungen. Also findet all das keine Berücksichtigung in ihren Asylverfahren. Auch wir kriegen das dann manchmal nur nonverbal mit oder darüber, daß sie über Schmerzen im Unterleib klagen oder nicht mehr mit ihren Männern schlafen können.

Die Partner sind also mit betroffen?

Karcher: Ja. Und auch die Kinder. Sie haben Schulschwierigkeiten, Kontaktstörungen. Manche bosnischen Kinder waren dabei, als ihre Mütter vergewaltigt wurden. Und dann leben sie alle zusammen in einem kleinen Raum im Heim. Vater und Mutter haben Alpträume, schreien mitten in der Nacht los. Die Kinder kriegen alles mit, verschließen sich, sprechen nicht darüber, kriegen körperliche Symptome.

Wenk-Ansohn: Gegenüber Gefolterten gibt es so etwas wie eine institutionelle Unsensibilität. Gefolterte empfinden die Befragung in den Asylverfahren wie früher Verhöre im Gefängnis, und sie bekommen regelrechte Blackouts. Und wenn sie dann nach der Anhörung als Asylbewerber abgelehnt werden und jahrelang auf ihr Verfahren vor dem Verwaltungsgericht warten müssen, fallen sie in eine Situation völliger Ungewißheit. Sie dürfen nicht arbeiten, obwohl das das Beste für sie wäre, um dem depressiven Grübeln zu entkommen. Die Folterfolgen, das Heimweh, und dann noch diese Unsicherheit – auch wir können das nicht alles auffangen.

Sie behandeln auch Stasi-Opfer?

Karcher: Ja. Viele leiden an Spätfolgen durch ihre Inhaftierungen.

Aber physische Folter gab es doch eher in den fünfziger und sechziger Jahren?

Wenk-Ansohn: Richtig. Später wurde mehr psychische Folter angewandt: Isolation, Kontaktverbot zur Familie, zu den Kindern.

Karcher: Ich hatte einen 19jährigen Patienten, der ein paar Monate vor der Wende vom Schulhof weg verhaftet und eingesperrt wurde. Er war vier Monate isoliert, mit Essensentzug, ohne Kontakt zu Eltern oder Anwalt, und der ist wirklich verrückt gemacht worden. Als er rauskam, hatte er Alpträume, zitterte, traute sich nicht mehr aus dem Haus.

Was sollte ich als Journalistin veröffentlichen, weil es nötig ist, was sollte ich verschweigen, weil es zu grausam ist? Als ich über den Vortrag Ihres äthiopischen Expatienten berichtete, entschied ich mich, die bestialischen Details der Folter wegzulassen.

Wenk-Ansohn: Finde ich richtig. Sensible Gemüter werden durch die Einzelheiten abgeschreckt, sich näher auf das Thema oder die Person einzulassen, und den Voyeurismus von Sadisten sollte man nicht bedienen.

Karcher: Es steht eh schon soviel in den Zeitungen, was wir gar nicht verarbeiten können. Wir können nur eine bestimmte Menge an Grausamkeiten in uns reinlassen. Ich mache irgendwann dicht, Sie auch, jeder an einer anderen Stelle.

Wenn ich im „Spiegel“ das Bild eines Lasters sehe, der voll von Leichen nigerianischer Oppositioneller ist, blättere ich ganz schnell weiter und lese den Artikel nicht.

Wenk-Ansohn: Ich weiß auch nicht, ob man so etwas veröffentlichen sollte. Wir haben uns im Zweifelsfall immer eher gegen solche Veröffentlichungen entschieden. Ein solches Bild kann wachrütteln, aber es kann auch Abwehr produzieren. Wir werden immer wieder von Journalisten gefragt: Welche Foltermethoden gibt es? Das grenzt für mich an Voyeurismus.

Karcher: Wir sind auch gar nicht in der Lage, die Grausamkeiten in ihrem ganzen Ausmaß zu reflektieren. Auch die meisten unserer Patienten erzählen aus einem inneren Gespür heraus nur stückweise von der Folter. Manche, die schon beim ersten Gespräch überlaufen, bremsen wir bewußt. Das ist weder für uns noch für sie gut. Hinterher sind sie dann völlig ausgelaugt und reagieren mit schrecklichen Alpträumen.

Wenk-Ansohn: Wenn ich eine Stellungnahme im Asylverfahren abgeben soll, muß ich diesen Menschen bereits in der Phase der Diagnostik zu Details befragen, die sonst erst später im geschützten Raum der Therapie zur Sprache kämen. Das ist für beide Seiten belastend. Ich sage dann immer: Überlegen Sie, wie weit Sie gehen wollen. Vielleicht träumen Sie heute nacht davon. Aber kommen Sie dann wieder, und wir werden versuchen, das aufzufangen.

Wenn Journalisten aber nur ganz allgemein über „Mißhandlungen“ berichten, dann klingt das wiederum zu harmlos.

Karcher: Natürlich muß die Presse berichten, aber sie muß ein Maß darin finden.

Wenk-Ansohn: Bei den Lesern kommt ja auch sehr viel in Gang. Entweder Abwehr oder aber Überidentifikation, verbunden mit Schwarzweiß- oder Täter-Opfer- Denken, wo ganz viel eigene Geschichte abgeladen wird. Damit sind die Gefolterten nicht länger Subjekte, sondern Objekte unserer Projektionen. Sie sind nur Opfer.

Umgang mit traumatischen Erfahrungen, Teil 2: am Freitag, dem 22.März; ein Gespräch mit dem Holocaust-Forscher Wolfgang Benz