Rasanter Aufschwung am „Rande der Welt“

Das nordrussische Gebiet der Nenzen, Zentrum der wichtigsten Erdgasregion, boomt. Jetzt wird auf Tourismus gesetzt

SALECHARD taz ■ Wladimir Sobnin hat einen Traum. Dessen Verwirklichung verschlug den Fachmann hoch in den russischen Norden. Eigentlich ist Sobnin 2.000 Kilometer südlich im sibirischen Tjumen zu Hause. Vor zwei Jahren versah der Kreis der Jamal-Nenzen den Tourismusexperten mit einem originellen Auftrag. Sobnin soll die Region jenseits von Ural und Polarkreis mit tausenden Kilometern Eismeerküste für Besucher aus aller Welt attraktiv machen.

Schier grenzenlose Möglichkeiten locken da, und Sobnin kommt ins Schwärmen: Jagd auf Bären, Hasen, Vielfraße, auch für ungeübte Jäger. Langlaufloipen entlang der Eisenbahnstrecke 501–503. 1.500 Kilometer durchzieht die Trasse die Tundra von West nach Ost. Sie wurde unter Stalin von Gefangenen und auf den Gebeinen abertausender Gulag-Häftlinge errichtet.

Wanderfahrten auf dem Ob, Winterfischgründe und ein Ethnowochenende bei dem Volk, das dem Kreis den Namen gab, den Nenzen, preist Sobnin an. Die Ureinwohner sind Jäger und nomadisierende Rentierzüchter. 40.000 leben in Russland, aber nur 6.000 ziehen noch wie die Vorfahren über die Halbinsel Jamal.

In der Sprache der Ureinwohner bedeutet „Jamal“ Rand der Welt und bezeichnet die Landzunge zwischen Obbusen und Eismeer. Die geografische Lage bereitet Sobnin Kopfschmerzen. Nur schwer lässt sich der „Rand der Welt“ kontrollieren, und so ist der russische Inlandsgeheimdienst FSB nicht bereit, die Einreisesperre für Ausländer aufzuheben. Der autonome Kreis gehört zu den Objekten von strategischem Interesse: 90 Prozent der Erdgas- und 12 Prozent der russischen Ölreserven lagern hier. Auch Deutschland bezieht Öl und Gas von hier.

Die Kreishauptstadt Salechard boomt. Drei Stunden am Tag zeigt sich die winterliche Polarsonne wie durch dickes Milchglas, bevor es wieder dunkel wird. Trotzig hüllen Projektoren, Leuchtreklamen, Lichterketten und Straßenlaternen die 42.000-Seelen-Stadt in der ewigen Nacht dann in künstliches Licht. Salechard ist reich. Mit 1.000 Euro Durchschnittslohn ist es Russlands wohlhabendste Stadt.

Der Aufschwung begann, nachdem der Kreml den Flecken am Polarkreis zum Verwaltungszentrum der wichtigsten russischen Erdgasregion erhob. Wo vor zehn Jahren Baracken und Bretterbuden die „Gefangenen des Nordens“ notdürftig vor dem Frost schützten, stehen jetzt moderne Häuser. Öl- und Gasrausch verwandelten die früheren Straflager und Elendsquartiere Sibiriens in selbstbewusste Stadtstaaten, in denen die größten Energiekonzerne herrschaftliche Niederlassungen errichteten.

„90 Prozent des Jamal-Gases kontrolliert Gazprom“, sagt Vizegouverneur Fuat Sajfitdinow. Steuern zahlen die Firmen meist in Moskau, dennoch reichten die Abgaben für die Region. „Man muss mit Moskau befreundet sein und teilen lernen“, meint der 54-jährige Ölingenieur. 2007 beträgt der Kreishaushalt 1,5 Milliarden Euro, bei 500.000 Einwohnern ist das Russlands höchstes Pro-Kopf-Budget. „Das Gas reicht noch für hundert Jahre“, sagt Sajfitdinow und deutet auf eine Karte. Künftig soll die Gasförderung um 10,3 Prozent steigen und 624 Milliarden Kubikmeter erreichen.

Die Wandkarte mit den verborgenen Schätzen hängt über einer Seidentapete im Empire-Stil. Salechard gehört zu den „Vereinigten Russischen Emiraten“. So nennt der Volksmund Städte wie Tjumen, Nowy Urengoi, Surgut oder Chanty-Manssisk, die vom Energieboom der letzten Jahre profitierten. Die Stadtväter richten sich auf einen längeren Aufenthalt ein. Auch davon zeugt der Bau eines neuen Museums in Salechard. Das Gebäude ist der ganze Stolz des Direktors. Nicht an Geld fehlt es ihm, eher an Ausstellungsgegenständen, und so werden auf Auktionen weltweit schon mal ganze Sammlungen ersteigert.

Die Einnahmen aus dem Verkauf des Gulag-Stacheldrahts reichen dafür nicht. Drei Zentimeter rostiger Draht, hübsch verpackt, sind für 2 Euro zu haben. „Wir sind nicht das Ende, sondern der Anfang der Welt“, verkündet ein Plakat in der Tundra. In der naturalistischen Weltsicht der Nenzen macht das keinen großen Unterschied. Die Ureinwohner werden am Ende aber Verlierer sein. Der Ausbau der Förderung bedroht nicht nur die Weiden, acht geplante Pipelines werden auch die alten Rentier-Routen durchqueren.

Hundert Jahre reichen die Vorräte noch, meinte der Vizegouverneur. Wladimir Sobnin muss sich mit dem Tourismuskonzept als alternativer Einnahmequelle nicht sputen. Dem FSB bleibt Umdenken erst mal erspart. KLAUS-HELGE DONATH