Nach dem Ramadan zieht das Parlament nach Bengasi um

LIBYEN Bei der Wahl zum Repräsentantenhaus gewinnen zahlreiche gemäßigte Kandidaten

AUS TRIPOLIS MIRCO KEILBERTH

Bei der Parlamentswahl vom 25. Juni haben sich überraschend viele moderate Kandidaten durchgesetzt. Die vorläufigen Wahlergebnisse waren für die den Muslimbrüdern nahestehenden Gerechtigkeits- und Aufbaupartei und für den ehemaligen Interimsregierungschef Mahmud Dschibril und dessen politisches Lager enttäuschend.

Politische Parteien waren zur Wahl nicht zugelassen. Der kürzlich aufgelöste Nationalkongress und die unerfahrenen Politiker sind in den Augen vieler Libyer für das Chaos der letzten zwei Jahre hauptverantwortlich. Die wenigen registrierten Wähler zogen daher vor allem in Tripolis und Bengasi Aktivisten und aus den Stadtteilen bekannte Persönlichkeiten vor.

In dem religiös-konservativen Stadtteil Suq al-Juma, einem Vorort von Tripolis, gewann überraschend der ehemalige Vizepremierminister Mustafa Abu Shagur. Ganze 13.700 Stimmen reichten ihm für Platz eins in dem Vorort mit seinen 500.000 Einwohnern, der als eine Geburtsstätte der Revolution von 2011 gilt. „Die Wähler haben sich gegen die ehemaligen revolutionären Milizen entschieden, die den Streit im Kongress auf den Straßen ausgefochten haben“, sagt Aktivist Mohamed Essul aus Suq al-Juma.

Das künftige Parlament, das Repräsentantenhaus, wird nach dem Ramadan nach Bengasi umziehen, obwohl in den Außenbezirken der Stadt des Landes mittlerweile eine Art Bürgerkrieg herrscht. In den vergangenen zwei Jahren waren zahlreiche Abstimmungen im Kongress in Tripolis von Drohungen religiöser Milizen beeinflusst worden; mehrmals wurden Abgeordnete verletzt oder der Tagungsort gestürmt. „Diesen Erpressungen werden wir in Bengasi nicht mehr ausgesetzt sein“, hofft Aly Takbali, der für den Bezirk Tripolis-Mitte in das 200-köpfige Parlament gewählt worden ist.

Ob die Abgeordneten in Bengasi sicher sind, darf bezweifelt werden. 400 Tote hat der Machtkampf zwischen der Saiqa, einer Sondereinheit der Armee, und den ehemaligen revolutionären Milizen um Ansar al-Scharia bisher gefordert.

Der 62-jährige Takbali will sich nicht einschüchtern lassen. „Die Polarisierung in Libyen ist eine Zeitbombe. Als Zeichen der Versöhnung wollen wir zuerst den jahrelang vernachlässigten Osten Libyens wieder mit ins Boot holen“, kündigt der säkulare Universitätsprofessor an.

Dass die religiösen Kräfte, die das alte Parlament domininiert haben, ihre Macht nicht so einfach aufgeben wollen, zeigt die Ankündigung der sogenannten Isolationskommission. Sie will 41 Kandidaten nachträglich von der Wahl ausschließen, da diese unter dem Muammar al-Gaddafi hohe Posten inne hatten. „Das Isolationsgesetz kam unter Waffengewalt zustande und ist daher undemokratisch“, kritisiert Takbali, der schon unter dem Diktator der Opposition angehörte. „Das Repräsentantenhaus muss vom ersten Tag an zeigen, dass es sich von niemandem erpressen lässt. Sonst hat die Demokratie in Libyen erst einmal verspielt.“