Schule der Radikalität

KÜSSE UND BISSE – NOTIZEN ZUM KLEIST-JAHR (2): Der Dichter als Märtyrer – da stand man drauf. Und heute?

Sie gaben sich so diszipliniert und wohlerzogen, diese Gymnasiasten, die wir Anfang der siebziger Jahre in ihrem Literaturunterricht beobachteten. Und so verblüffte uns der besonders liebenswürdige Lothar umso stärker, als er seinen Brief an Michael Kohlhaas – Hausaufgabe: schreiben Sie nach dem Vorbild Martin Luthers einen Brief an K. – begann: „Auch wenn ich einige Punkte Deines Vorgehens kritisieren muss, so muss ich doch im Großen und Ganzen Deine Taten loben. Deine Ziele entsprechen zwar nicht streng den unsrigen, aber der Kampf gegen den Adel, Großgrundbesitz und ähnliche Leute ist als konstruktiv und raisonabel zu bezeichnen.“ Unterschrieben hatte Lothar den Brief mit „Friedrich Engels“, und die hübsche Brigitte verglich Kohlhaas im Unterricht arglos mit Andreas Baader …

Ja, so war das Anfang der Siebzigerjahre. Die politische Hitze kühlte dramatisch ab – „in dieser Legislaturperiode findet die Revolution jedenfalls nicht statt“ –, aber der Radikalismus blieb als Haltung übrig. Und er bemächtigte sich literarischer Materialien; er vitalisierte gewisse Werke der deutschen Tradition, die einen – möglichst tragischen – Radikalismus verkörpern.

Und da stand Kleist natürlich an erster Stelle. Kohlhaas, der Prinz von Homburg, Penthesilea, das Äußerste der Liebe ist der Tod, das Äußerste der Rebellion ist die vollkommene Unterwerfung, Schüler und Lehrer, ebenso die Theater, die Literaturkritik und -wissenschaft schwelgten in diesen Stoffen. Dass radikales Schreiben in einem ganz anderen Raum stattfindet als radikales Leben, erleichterte die Sache erheblich – und führte zu Verwechslungen.

Wobei der bizarre und erratische Kleist einen ja wirklich darüber im Unklaren lässt, ob er bloß ein radikal schreibender oder auch ein radikal Lebender war. Die verworrenen Frauengeschichten, die literarisch im „Käthchen von Heilbronn“ oder der „Marquise von O.“ kulminierten – Penthesilea hatten wir schon. Die patriotische Begeisterung gegen Napoleon (oder für ihn?), die ein Splatterstück namens „Die Hermannschlacht“ zeitigte. Die in allen Hinsichten quer verfolgte Karriere, die gleichwohl ein journalistisches Meisterwerk wie die „Berliner Abendblätter“ hervorbrachte.

Insbesondere der Selbstmord am Wannsee sah damals wie eine Wahrheitsprobe aus, der sich der Dichter unterzogen und die er bestanden hatte. So wie vermutlich der liebenswürdige Lothar und seinesgleichen die Selbstmorde von Stammheim 1977 als Wahrheitsproben auf die Existenz der Revolutionäre verstanden – nein, Unfug, die Revolutionäre wollten die Szene ja als Hinrichtung seitens des Staates aussehen machen, was die jungen Leute viele Jahre kostete, bis sie akzeptierten, dass es Selbstmord gewesen war (und den Bluff der Inszenierung verachteten). Die Revolutionäre hatten die Wahrheitsprobe vermasselt.

Jedenfalls kam über die Siebziger ein Grundgedanke der deutschen Literaturgeschichte, an Kleist entwickelt, wieder ins Spiel: dass literarisches Schreiben, soll es Gültigkeit besitzen, eine Schule der Radikalität ist. Weshalb Resignation, Weisheit, Skepsis, Ironie mit Literatur inkompatibel sind. Der Dichter ist ein Märtyrer; weshalb die wahren Dichter – Büchner, Kleist, Hölderlin, Kafka – jung sterben oder gleich verstummen.

Und heute? Heute kulminiert für mich diese Geschichte darin, dass zu unserer größten Freude 2008 niemand anderes den Kleistpreis erhielt als – Max Goldt. MICHAEL RUTSCHKY

■ 2011 ist Kleist-Jahr. Am 21. November 1811 hat der Dichter sich erschossen. Wir drucken, immer am 21. eines Monats, Notizen zu Leben und Werk dieses seltsamsten deutschen Klassikers.