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: Wie Hannibal wurde, was Lecter ist: Thomas Harris liefert die Vorgeschichte einer Karriere des Bösen

Anthony Hopkins hat die Figur des Hannibal Lecter – Universalgelehrten, Schöngeists, Kannibalen, Lustmörders – endgültig verkörpert in Jonathan Demmes Film „Das Schweigen der Lämmer“. Hannibal Lecter, Jahrgang 1933, stammt literarisch aus dem späten 19. Jahrhundert, als man sich für dekadent hielt, für ebenso verroht wie verfeinert; als mit dem Nietzsche-Kult einer der Renaissance blühte, „von Blut und Schönheit dampfend“. Die ästhetische Feier des Bösen erzeugte Gestalten wie Dr. Jekyll/Mr. Hyde (Robert Louis Stevenson), Des Esseintes (Joris-Karl Huysmans), Dorian Gray (Oscar Wilde). Die sog. Artistes pompiers versorgten die Augen des Publikums mit den gewünschten Bildern der Sündhaftigkeit – vollkommen einleuchtend, dass diese Tradition heute im Kino endet.

Dabei ist Hannibal Lecter ursprünglich eine Romanfigur von Thomas Harris. Und der sieht sich im neuesten Band genötigt, die Ätiologie nachzuliefern: Wie wird einer Schöngeist und Lustmörder zugleich? Aufgrund der unvergleichlichen Barbarei des Zweiten Weltkriegs, was sonst? Erst die Wehrmacht, dann die Rote Armee okkupieren das elterliche Schloss in Litauen – Draculas Schloss in Transsylvanien ward nach Norden verschoben –, am schlimmsten aber treibt es eine einheimische, von den Kriegswirren freigesetzte Räuberbande. Sie verpasst Hannibal Lecter das zentrale Trauma, welches sein schauderhaftes Triebschicksal prägt. In der allgemeinen Hungersnot des Kriegsendes brutzeln sie seine kleine Schwester; Hannibal verfolgt sie als Racheengel nach Frankreich, nach Kanada (wo sie, kennt man doch, under cover ein neues erfolgreiches Leben begonnen haben), um zuallerletzt zu erfahren, dass er selbst von der Brühe geschlürft hat, zu der die süße Kleine verkocht ist, und das macht ihn endgültig zu dem Monster, als das wir Anthony Hopkins bewundert haben (Brian Cox in „Manhunter“ war auch nicht schlecht). Thomas Harris gibt sich große Mühe, Personen und Szenerien als den Kitsch erstrahlen zu lassen, den wir aus den Büchern und Malereien des 19. Jahrhunderts kennen. Die Gräfin Lecter zeichnet überirdische Schönheit aus, den Grafen stupender Edelmut; den besten Lehrer (gleichgültig gegen seine jüdische Herkunft) stellt er für sein geniales Söhnchen ein, das in der Mathematik ebenso brilliert wie im freien Handzeichnen. Der Onkel, der den verwaisten Jüngling in seinem Chateau bei Paris aufnimmt, brachte es zum weltberühmten Maler, dessen Werke Hitler und Göring für ihre Privatsammlungen horteten, wiewohl er offiziell als „entartet“ galt. Verheiratet ist der Maler Robert Lecter mit der Gräfin Murasaki, die ganz nach den Vorschriften des 19. Jahrhunderts die zeremoniösen Blumen- und Versgeschenke und die rätselhafte Höflichkeit des Fernen Ostens in die Liebschaft, jawohl, mit dem Jüngling Hannibal einbringt …

Man kann sich daran stören, dass Robert Harris den Kitsch, den seine Geschichte erfordert, nicht fett und bunt genug hinkriegt (besonders vorbildlich ist in dieser Hinsicht Gustave Flauberts Karthago-Roman „Salammbo“): Robert Harris’ Kitsch bleibt grau, was sich aus seinen bescheidenen literarischen Mitteln erklärt, vor allem aber aus der Grundentscheidung, Hannibal Lecter, das Monster, den exquisit Bösen von unüberwindlicher Kraft, von unstillbarer Grausamkeit, aus seiner Vorgeschichte zu erklären. Ach so, er ist auch bloß ein Opfer, ein Opfer des Zweiten Weltkriegs, von Hitler und Stalin, na dann ist ja alles paletti.

Das Böse erregt wahrhaft Schrecken, wenn es unvermittelt auftritt, urplötzlich, wie aus dem Nichts kommend, autonom – Karl Heinz Bohrer hat dieser Problemlage eine ganze Kunstphilosophie gewidmet. Sie gilt auch für die unteren Etagen. Wenn das Böse bloß ein anderes Böses widerspiegelt, ist es per definitionem Abklatsch, verkleinert, flau. MICHAEL RUTSCHKY

Thomas Harris: „Hannibal Rising“. Aus dem Englischen von Sepp Leeb. Hamburg, Hoffmann & Campe 2006, 344 Seiten, 19,95 Euro