„Der Markt reguliert die Einwanderung“

INTEGRATION Tamar Jacoby fordert, alle Migranten in den USA zu legalisieren. Ihr Argument: Die Wirtschaft braucht sie

Die Autorin und Journalistin: Die 1954 in New York geborene Tamar Jacoby ist in amerikanischen TV- und Radio-Shows ein regelmäßiger Gast, wenn es um Migrationsthemen geht. Sie war Redakteurin der New York Times, schreibt für Wall Street Journal oder Washington Post und veröffentlichte zwei Bücher zum Thema Einwanderung und Integration in den USA.

Der Verein: Sie ist Vorsitzende von ImmigrationWorks USA, einer Vereinigung von Unternehmern, die für die Verbesserung der Einwanderungsgesetze eintreten und deren Reform voranbringen wollen. Sie versuchen, Kleinunternehmer davon zu überzeugen, dass diese und die gesamte Wirtschaft und damit alle Einwohner der USA von Einwanderung profitieren.

Die Akademie: Derzeit ist Jacoby als Fellow der Bosch Stiftung an der American Academy in Berlin. Dort erforscht sie den Stand der Integration von Einwanderern in Deutschland. Am kommenden Donnerstag, den 16. Dezember um 19 Uhr hält Jacoby an der American Academy den Vortrag „What it means to be an immigration country“.

INTERVIEW DORIS AKRAP

taz: Frau Jacoby, Sie behaupten, Deutschland und die USA können im Hinblick auf Einwanderung voneinander lernen. An was denken Sie da?

Tamar Jacoby: Ich versuche es mit einem Bild: Zwei Leute wollen ein Lied singen, der eine kennt den Text, der andere die Melodie. Europa und Kanada kennen die Wörter, sie haben Sprachkurse, interkulturelle Kurse, Staatsbürgerkurse. Die USA hingegen bieten solche Programme kaum. Dafür kennen sie die Melodie: In den USA herrscht eine funktionierende soziale Mobilität für Einwanderer; Leute, die ganz unten anfangen, können sich hocharbeiten. Und die USA definieren sich über Ideen und nicht über Blut, Kultur und Tradition. Einwanderer werden nicht nur toleriert, sondern sind Teil der Familie.

Was würde das für den deutschen Kontext heißen?

Die Deutschen können nicht morgen ihre Nation neu erfinden. Aber sie müssen allmählich damit beginnen, eine neue Kultur der Staatsbürgerschaft zu entwickeln, sonst riskieren sie eine unüberbrückbare Trennung von Dazugehörigen und Außenseitern.

Sie halten das amerikanische Einwanderungsgesetz für defekt. Warum?

Wir brauchen Arbeitskräfte aus dem Ausland. Unsere Einwanderungsquoten entsprechen nicht mehr unseren Bedürfnissen. Aber an unserer Grenze sind zwei Schilder aufgestellt. Auf dem einen steht: Bleib draußen! Und auf dem anderen: Hilfe erwünscht! Das ist so, als würden wir Autos herstellen und die Importquote für Stahl 30 Prozent zu niedrig ansetzen. Das ist untragbar. Seit der letzten Legalisierung der illegalen Einwanderer vor 20 Jahren sind jedes Jahr etwa eine halbe Millionen Leute ohne Papiere nach Amerika gekommen. In den USA leben derzeit etwa 11 Millionen unautorisierte Einwanderer, die ohne Arbeitsgenehmigung arbeiten und Autos ohne Führerschein fahren. Ein echtes Integrationsproblem.

Wie lösen Sie das?

Wir kämpfen seit 10 Jahren für die Einwanderungsreform, die aus drei Punkten besteht: Die illegale Bevölkerung legalisieren, die Quote höher bzw. flexibler gestalten und das Gesetz nachhaltig durchsetzen.

Illegale werden aber auch von Unternehmern in den USA als billige und flexible Arbeitskraft bevorzugt?

Ich arbeite mit Restaurantinhabern, Farmbesitzern etc. zusammen. Die meisten würden lieber legale Arbeiter einstellen. Wer in ein Business investiert, will nicht Gefahr laufen, dass morgen eine Razzia wegen illegaler Beschäftigung den Firmennamen beschädigt. Natürlich gibt es Unternehmer, die nur drei Dollar die Stunde zahlen. Aber die Mehrheit denkt einfach an ihr Geschäft. Deswegen schreiben viele Unternehmer Briefe an die Senatoren, in denen sie darum bitten, die illegalen Arbeiter zu legalisieren. Dass das System auf Ausbeutung beruht, dass nehme ich den Kritikern nicht ab.

Wer in ein anderes Land geht, weil er hofft, dort seinen Lebensunterhalt besser verdienen zu können, macht das aber doch nicht ganz freiwillig.

Keiner steht aber morgens auf und beschließt in ein anderes Land zu gehen, ohne jemanden zu kennen oder zu wissen, ob er da überleben kann. Es gibt ein gutes Informationssystem, der Cousin oder ein Freund rufen an und erzählen, dass es dem Restaurantgewerbe in New York nicht gut geht, dass es aber einen Hurrikan in New Orleans gab, wo es jede Menge Arbeit gibt. Wer hat New Orleans wiederaufgebaut? Einwanderer! Man sieht das auch an den Zahlen. Während wirtschaftlicher Krisen liegen die Einwanderungszahlen viel niedriger. Der Markt ist also selbstregulierend.

Was hat sich im Hinblick auf Einwanderung mit Obama geändert?

Leider nicht viel. Republikaner und Demokraten konnten sich in den letzten zwei Jahren auf nichts einigen. Beim Thema Einwanderung fanden sie keine gemeinsame Basis.

Geben Sie Obama die Schuld für die Entstehung der rechten Tea-Party-Bewegung?

Ich gebe ihm nicht die Schuld. Ich glaube auch nicht, dass sich die meisten daran stören, dass Obama ein schwarzer Präsident ist. Viele stören sich aber daran, dass sein politisches Programm der Regierung eine größere Rolle zuschreibt. Die Tea Party ist nur die extremste Version von jenen, die das ablehnen.

Rassismus ist in den USA aber dennoch ein Problem.

Wenn aus dem Telefon eine Stimme sagt: „Drücken sie 1 für Spanisch und 2 für Englisch“, bringt das die Leute auf die Palme. Manche Amerikaner sind rassistisch, aber viele Leute haben eine unbegründete und dennoch nachvollziehbare Angst davor, dass Politik, Justiz oder Kultur weniger amerikanisch und mehr mexikanisch werden. Ich schätze, dass nur etwa 10 bis 20 Prozent der Bevölkerung rassistisch ist. Wo jedoch legitime Ängste aufhören und rassistische Vorurteile anfangen, ist eine Grauzone.

Was halten Sie von dem kanadischen Punktesystem, dass Einwanderung reguliert?

Als Signal an Einwanderer ist es okay, aber nicht effizient. Zunächst galt das Modell des Humankapitals: es wurden Sprachfähigkeiten und ähnliches abgefragt. Mittlerweile vergibt Kanada die Punkte eher nach Ausbildungsabschluss, Arbeitserfahrung etc. Es gibt aber ein größeres Problem: Kein Arbeitgeber will sich von der Regierung vorschreiben lassen, wen er anstellt. Ich bin dafür, ein Punktesystem einzuführen, dass Einwanderer nach fünf Jahren bewertet. Ob jemand beispielsweise als Doktor kam und als Taxifahrer endete.

Das, was im 19. Jahrhundert Kohle, Eisen und Kolonien waren, sind heute die Fachkräfte

Und den würden Sie dann wieder nach Hause schicken?

Die Leute sollten mit Kurzzeitvisa kommen. Natürlich muss es eine zweite Chance geben, wenn man es nicht gleich schafft. Aber wer nicht erfolgreich ist, geht meistens auch freiwillig wieder nach Hause.

In Deutschland hat man die angeworbenen Arbeiter jahrzehntelang auch nur als Gast betrachtet. Fair war das nicht.

Sie haben Recht, das war ein Problem. Aber ein noch größeres Problem war, dass niemand glaubte, die Leute würden bleiben und deswegen kein Gedanke an ihre Integration verschwendet wurde. Weder von Deutschen noch von Einwanderern.

Den Deutschen Buchpreis erhielt 2010 die Schweizerin Melinda Nadj Abonji. Das Buch wäre vielleicht nie entstanden, wäre die Integrationsleistung ihrer jugoslawischen Eltern nach fünf Jahren bewertet worden.

Leute migrieren aus allen möglichen, aber überwiegend aus ökonomischen Gründen. Einwanderer sind nicht einfach nur Widgets, sie bringen viele Vorteile. Trotzdem sind für eine Gesellschaft, für die Einwanderer und für das Gastland, Arbeit und Produktivität am wichtigsten. Einwanderer bauen am Wohlstand eines Landes mit. Provokativ gesagt ist ein großzügiger Wohlfahrtsstaat Teil des Problems. Ich würde Einwanderern in den ersten fünf Jahren keine Sozialleistungen zugestehen. Letztlich geht es darum, das Mittel zu finden, das am besten integriert und das ist Arbeit.

Wirtschaftlich wichtige Fachkräfte sind auch in Deutschland gern gesehen. Aber Fachkräfte brauchen auch eine Putzfrau.

Ja, wir konkurrieren alle um Ingenieure und Wissenschaftler. Das, was im 19. Jahrhundert Kohle, Eisen und Kolonien waren, sind heute die Fachkräfte. Sie sind das Geheimnis eines erfolgreichen Landes.