Unberechenbarer Großstadtdschungel

Gefahren lauern überall: Das Leben im Concrete Jungle Berlin fordert gute Instinkte und eine Ausrüstung wie für den Urwald. Wer die Gesetze der Straße nicht beachtet, kann schnell Ärger bekommen. Ein Tatsachenbericht

Gute Schuhe und ein Rucksack. Am besten auch ein Taschenmesser für alle Fälle. Und dann auf alle Fälle informieren. Wer noch nie in New York war, muss wissen: Wo sollte man besser nicht hin, als Weißer, als Radfahrer oder Tourist? Oder in Marseille. Wie schafft man es da als Fußgänger ohne Gasmaske durch den Verkehrssmog? Und Achtung: In London kommt der Bus von links! Ganz abgesehen davon, dass man auf allein stehendes Gepäck achten sollte, es könnte ja eine Bombe drin sein.

„Du musst dir die Großstadt wie einen Dschungel vorstellen“, hat eine Freundin neulich zu ihrer Tochter gesagt. Die Schlangen seien böse Männer oder freche Jungs. Das Mädchen ist fast 16, aber irgendwie stimmt der Vergleich. Für Kinder sind neben Sexualtriebtätern wiederum Autos und Lastwagen die größte Gefahr, weshalb Mütter und Väter immer wieder einbläuen: „Geh nicht allein in den Park, schaue an jeder Straße nach links und rechts und traue auch keiner grünen Ampel. Denn das wilde Tier fährt auch bei Rot!“

Wem das Leben in der Großstadt trotz allem zu langweilig ist, kann eine ganze Menge unternehmen, um den Adrenalinspiegel zu heben. Klettern zum Beispiel, Freestyle am Bunker im Weddinger Humboldthain ohne Sicherung. An jedem Wochenende probieren es ein gutes Dutzend, bis jetzt haben es noch alle überlebt. Der Verein Berliner Unterwelten bietet auch Bunkerführungen am selben Ort. Mit Taschenlampe geht es sechs Stockwerke in die Tiefe, nichts für schwache Nerven. Oder wie wäre es mit einer Führung durch die Kanalisation? Die Berliner Wasserwerke laden einmal im Jahr zur Besichtigung ein, Gestank inklusive.

Weil Klein und Groß auch äußerlich gut geschützt sein wollen im Häusermeer, nutzen sie immer öfter das modische Angebot von Outdoorherstellern. Rückenschonende Rucksäcke, angstschweißtranspirierende Fleece-Jacken, reflektierende Anoraks und sogar Skibrillen sind auf den Straßen von Tokio, Berlin und New York längst Fashionroutine. Markenmode von Herstellern wie The North Face, Jack Wolfskin oder Mammut findet man mittlerweile auch bei Büroangestellten, denn auch sie haben in der Regel eine strapaziöse Reise hinter sich, wenn sie morgens an ihrem Schreibtisch landen. Und wenn es abends mal wieder später wird – kein Problem, der Schlafsack liegt neben den Akten, die sich selbst aufblasende Isomatte ist parat. Fast jedes kreative Firma akzeptiert heute Büroschläfer, man weckt sie am nächsten Tag mit einem Fußtritt und erinnert daran, die Dusche zu benutzen. Auch die gehört in immer mehr Unternehmen zum Standard. Denn wer morgens mit dem Rennrad durch den dichten Verkehr gewedelt ist, will sich erst mal umziehen, bevor die Vorstandssitzung beginnt.

Natürlich ist das Schlafen oder Duschen im Büro an sich nicht gefährlich, doch es zeugt von einem gewissen Instinktverhalten. Wer will mitten in der Nacht noch nach Hause fahren und sich womöglich dabei ausrauben lassen? Wer heutzutage eine Berliner U-Bahn nach 23 Uhr benutzt, muss in bestimmten Gegenden damit rechnen. Wer zu alldem auch noch jung und männlich ist, ist besonders gefährdet. Weshalb in dieser Altersgruppe viele nur noch Auto fahren, so sie denn eines haben. Angelika W., Restaurantbesitzerin aus Lichterfelde, hat ihrem Sprössling extra eines angeschafft, „weil die Jungs immer wieder abgezogen wurden“. Banden nahmen ihm an der Bushaltestelle Handys, Bargeld und einmal sogar die Turnschuhe ab. Und das in Steglitz, einem doch auf den ersten Blick hin eher bürgerlichen Bezirk.

So macht jeder seine Erfahrungen. Jemand, der nachts im Hausflur überfallen wird, weiß hinterher, dass es besser gewesen wäre, Autoschlüssel und Führerschein nicht in der Handtasche aufzubewahren. Dann ist nämlich nicht auch gleich noch das Auto geklaut. Und wer als weiblicher Teenager in Reinickendorf unterwegs ist, ist auch am hellllichten Tag nicht sicher vor marodierenden Mädchenbanden, die aus Langeweile einer Geschlechtsgenossin mal wieder so richtig die Fresse polieren wollen. Da hilft zwar kein Backpack, aber gute Schuhe erleichtern zumindest das Wegrennen.

Schnell sein, stark sein, das sind Skills, die im Dschungel wie in der Großstadt von enormer Bedeutung sind. Wer Marathon läuft, regelmäßig boxen geht oder sich in Karate übt, hat ein stärkeres Selbstvertrauen in die eigenen körperlichen Fähigkeiten, wenn es hart auf hart kommt. Am Waidmannsluster Romain-Rolland-Gymnasium etwa haben Siebtklässler ein Jahr lang Selbstverteidigung trainiert und vor allem, wie man sich als Opfer verhält und wie als Täter. „Nicht anfangen zu rennen, wenn einer hinter einem ist, möglichst ruhig laufen, selbstsicher wirken“, hat die 14-jährige Jördis gelernt. Ob sie sich damit gegen einen Bösewicht verteidigen kann, ist fraglich. Aber sie weiß jetzt, was ein Opfer ausmacht und wie Angst auf einen potenziellen Täter wirkt. Das gilt übrigens auch für Hunde, die schlimmsten Feinde überhaupt im Großstadtdschungel.CHRISTINE BERGER