Der Keinangsthase

PROVOKATEUR Torsten Albig regiert seit Juni 2012 in Schleswig-Holstein – nun macht er mit einer 100-Euro-Schlaglochabgabe bundesweit Schlagzeilen

AUS KIEL ESTHER GEISSLINGER

Wind von vorn – Nordlichter mögen so was. Entsprechend gelassen wirkt Torsten Albig, Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, der vor einigen Tagen selbst mächtig für Wind gesorgt hat, indem er eine Sonderabgabe von jedem Mitglied der Auto fahrenden Klasse einforderte, um die Schlaglöcher in den Straßen zu stopfen. Der Protest ist groß, auch die eigenen Genossen sind nicht glücklich über den Vorstoß des SPD-Politikers. Albig ficht das nicht an: „Entweder Sie sind Angsthase, oder Sie sprechen an, was ist“, sagte er. Dass er nicht vorhat, den Hasen zu geben, liegt auf der Hand. Ebenso, dass der Expressesprecher Albig nicht zufällig die nachrichtenflaue Osterzeit wählte, um die Forderung nach einer Straßenmaut zu platzieren.

Torsten Albig, hochgewachsen, mit markanter Glatze und breitrandiger Brille, regiert seit Juni 2012 in der Kieler Staatskanzlei, aus seinem Arbeitszimmer hat er einen schönen Blick auf die Kieler Förde. Seine Dreier-Koalition aus SPD, Grünen und der Minderheitenpartei SSW arbeitet mit einer Einstimmen-Mehrheit im Landtag verhältnismäßig reibungslos vor sich hin, begünstigt durch eine schwache Opposition und hohe Steuereinnahmen.

Stil und Markenzeichen der Regierung Albig ist der Dialog: Ständig gibt es Bürgergespräche, Diskussionsveranstaltungen, Gesprächskreise, in denen Nöte gehört, Wünsche formuliert, Forderungen besprochen werden, als befinde sich ganz Schleswig-Holstein in einer ausgiebigen Gruppentherapiesitzung.

Doch Torsten Albig, der bei seinen Reden oft in einen fast pastoralen Ton verfällt, kann auch Klartext und ist alle Jahre wieder für eine schräge Provokation gut: Als er noch Kieler Oberbürgermeister war, forderte er kurzerhand, die Bundesländer abzuschaffen. Die Landesregierungen kümmerten sich nur um ihre eigenen Interessen, sagte er 2010 in einem Zeitungsinterview. Kurz danach stieg er in den parteiinternen Machtkampf gegen Landeschef Ralf Stegner um den Posten des Spitzenkandidaten für die Landtagswahl ein. Und erst im Januar kritisierte er öffentlich die Pläne seines Bundesparteichefs und Bundeswirtschaftsministers Sigmar Gabriel zur Energiewende: „Unsinnig“ nannte der Ministerpräsident des Windstromlandes Schleswig-Holstein Vorschläge in Gabriels Eckpunktepapier. Auch das bescherte Albig bundesweite Schlagzeilen.

Der gebürtige Bremer, der in Heiligenhafen in Schleswig-Holstein aufwuchs und in Bielefeld studierte, kokettiert mit seiner kritischen Distanz zum „Raumschiff Politik“: Der Job als Ministerpräsident sei sein erster als Berufspolitiker, hatte er vor der Wahl im Frühjahr 2012 erklärt. Dabei ist der Sozialwissenschaftler und Jurist, der seit 1982 der SPD angehört, spätestens 1996 ins Raumschiff eingestiegen.

Damals holte der SPD-Parteichef Oskar Lafontaine den Finanzexperten Albig, der zuvor als Referent für Steuern und Finanzen in der Landesvertretung Schleswig-Holstein im Bund gearbeitet hatte, in die SPD-Parteizentrale. Albig saß im Planungsstab für die Bundestagswahl 1998 und schrieb am künftigen rot-grünen Steuerkonzept mit. Nach dem Wahlsieg nahm Lafontaine ihn mit ins Finanzministerium. Dort blieb Albig unter wechselnden Ministern – auf Lafontaine folgte Hans Eichel – als Sprecher.

2001 versuchte er, aus dem „Raumschiff Politik“ auszusteigen, als er Konzernsprecher der Dresdner Bank in Frankfurt wurde. Der Ausflug in die Wirtschaftswelt endete nach einem Jahr: Albig wechselte als Stadtrat zurück nach Kiel, später übernahm er die Kämmerei der Landeshauptstadt. 2006 holte Peer Steinbrück ihn erneut als Sprecher des Finanzministeriums nach Berlin. 2009 gewann er gegen die CDU-Amtsinhaberin den Posten des Kieler Oberbürgermeister. Nach einem Wahlkampfmarathon – erst parteiintern gegen Ralf Stegner, dann gegen einen blassen CDU-Kandidaten – tauschte Albig sein Büro im Kieler Rathaus gegen die Staatskanzlei. Der Vater zweier Kinder, der kommenden Monat seinen 51. Geburtstag feiert, scheint endgültig in seinem „Lieblingsland“, so sein Wahlkampfmotto, angekommen.

Oder doch nicht? Nach den Regeln, die im Raumschiff Politik nur einmal gelten, ist eine öffentliche Äußerung zu einem Aufregerthema in der Ferienzeit so gut wie ein Bewerbungsschreiben. In Kiel rührt sich gerade wenig – die Politik in Schleswig-Holstein ist langweilig, weil weder Regierung noch Opposition ein echtes Anliegen haben. Die Reformen der ersten Hälfte der Wahlperiode waren ein neues Schulgesetz und die künftige Verteilung der kommunalen Fördermittel.

Im vergangenen Jahr sorgte Kiel eher für schlechte Nachrichten: Die Oberbürgermeisterin Susanne Gaschke (SPD) erließ einem Augenarzt eine Steuerschuld in Millionenhöhe, ohne den Stadtrat einzubeziehen. Es folgte eine Schlammschlacht, deren Spritzer mehrere hochrangige SPD-Politiker trafen, darunter ihren Amtsvorgänger Torsten Albig und Ralf Stegner. Der wurde zwar nicht in seinen Traumjob als SPD-Generalsekretär berufen, zieht aber seither umso ungehemmter durch die Talkshows der Republik und schlägt Albig zumindest im Bekanntheitsgrad um Längen.

Zeit also für Torsten Albig, sich als pragmatischer Keinangsthase zu präsentieren? Ihm sei bewusst, mit seiner Haltung nicht die Wahl zum beliebtesten Politiker Deutschlands zu gewinnen, sagte Albig in einem der vielen Interviews, die er dieser Tage gab. Aber er macht sich bekannt als jemand, dem Sachthemen wichtiger sind als Umfragewerte und Harmonie in der Partei. Und als Besatzungsmitglied des Raumschiffs Politik, das über Straßen nachdenkt.