Beschwerdehefte für die Politiker

Ein Jahr nach den Unruhen in den Banlieues sammelt eine Organisation aus den französischen Vorstädten Klagen und Vorschläge aus dem ganzen Land. Heute werden sie dem Parlament übergeben. Polizei und Geheimdienst sind nervös

„Jugendliche möchten spazieren gehen, ohne ständig kontrolliert zu werden“

AUS PARIS DOROTHEA HAHN

20.000 Beschwerden und Vorschläge aus dem ganz Frankreich werden heute Nachmittag in Paris der Nationalversammlung übergeben. Deren Präsident, Jean-Louis Debré, hat keine Zeit, sie entgegenzunehmen: wegen „Terminen“.

Doch die OrganisatorInnen der „Cahiers de doléances“ – Beschwerdehefte – lassen sich nicht abhalten. Sie haben ihr Kollektiv „AC le feu“ im vergangenen Jahr auf dem Höhepunkt der sozialen Unruhen in den Vorstädten gegründet. In Clichy-sous-Bois, wo alles am 27. Oktober 2005 mit einer tödlichen Verfolgungsjagd zwischen Jugendlichen und der Polizei anfing. Das Kollektiv wollte dem Wüten eine politische Richtung geben, ist mit einem Minibus monatelang durch große und kleine Orte Frankreichs gefahren und hat eine Bestandsaufnahme der sozialen und politischen Misere im Land gemacht.

„Es gibt eine Ungleichheit der sozialen Klassen: keine Arbeit, heruntergekommene Wohnungen, Unsicherheit“, schreibt ein 49-jähriger Mann in Aulnay-sous-Bois bei Paris. „Die Jugendlichen möchten in ihrem Quartier spazieren gehen, ohne ständig von der Polizei kontrolliert zu werden“, notiert ein 19-Jähriger in Clichy-sous-Bois. „Warum sind die Gefängnisse für Minderjährige mit Jugendlichen aus Einwandererfamilien gefüllt?“, fragt eine 46-jährige Frau in Toulouse. „Alles steigt, außer unseren Löhnen“, meint ein Mann in Marseille. „Einwanderer müssen Steuern zahlen, dürfen aber nicht wählen“, so ein Pariser. „Die Medien sind mitverantwortlich für die Stigmatisierung der Vorstadtjugend“, stellt eine 25-Jährige fest.

217 Jahre nach der Französischen Revolution erinnern die „Cahiers de doléances“ an die Phase, die dem Regimewechsel vorausging. In den ersten Monaten des Jahres 1789 lieferten die in den Provinzen des Königreiches erfassten Klagen der Untertanen einen Vorgeschmack auf das, was folgen sollte. Das Kollektiv „AC le feu“ – lautsprachlich für „genug Feuer“ – benutzt zwar die historische Anspielung. Es ist jedoch nicht der Ansicht, Frankreich befände sich in einer vorrevolutionären Phase. „Wir leben in einer Krise“, erklärt Samira Guerrout. In den vergangenen Monaten hat sie mit anderen Mitglieder von „AC le feu“ tausende von anonymen Beschwerden ausgewertet und für das dicke Buch zusammengefasst, das heute nach einer Demonstration in Paris übergeben werden soll. Die InitiatorInnen des Kollektivs haben bei ihrer Tour de France sowohl Banlieues besucht, in denen es im vergangenen Herbst knallte, als auch Orte, in denen es keine Unruhen gab.

Bei der Gründung des Kollektivs vor einem Jahr stellten die jungen Leute fest: „Wenn Lkw-Fahrer in Frankreich Reifen verbrennen, wird das als politische Forderung verstanden. Wenn jugendliche Vorstädter Autos verbrennen, ist das eine Randale.“ Nicht zufällig kamen sie in Clichy-sous-Bois zusammen. Der zwölf Kilometer östlich von Paris gelegene Ort ist eine der ärmsten Gemeinden der Hauptstadtregion. In manchen Straßenzügen der 28.000-Einwohner-Stadt beträgt die Jugendarbeitslosigkeit mehr als 40 Prozent. Ziel der Aktion ist es, zu zeigen, dass in denselben Vorstädten, wo im vergangenen November binnen drei Wochen rund 9.000 Autos verbrannt wurden, auch Ideen blühen und „dass dort Leute leben, die nachdenken“, wie Mitgründer Samir Mihi erklärt.

In den „Cahiers de doléances“ finden sich viele Vorschläge für den Alltag in der Banlieue, die diese These belegen. Sie reichen von „kleineren Schulklassen (als Mittel gegen Versagen)“ über „schnellere Wohnungsvermittlung (Hilfe für geschlagene Frauen)“ bis hin zu „anonymen Lebensläufen“ (als Mittel gegen Diskriminierungen).

Unterdessen wächst auf der polizeilichen Ebene die Nervosität. Nachdem es in den vergangenen Tagen zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Polizisten und Jugendlichen gekommen ist, rechnet das Innenministerium zum „Jahrestag“ der Vorstadtrandale mit einer Zuspitzung. Der innere Geheimdienst Renseignements Généraux hat die Regierung in einer alarmistischen Notiz informiert: „Die meisten Bedingungen, die im vergangenen Jahr die kollektive Gewalt auf einem großen Teil des Territoriums ausgelöst haben, sind weiterhin vorhanden.“

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