Geschminkt wie ein Zirkusclown

Wein muss wahr sein, postulieren engagierte Winzer wie Konsumenten. Indes: Die Wirklichkeit sieht meist anders aus. Über die faustische Suche nach dem Wesen des Weins, den Qualitätsbegriff und den biodynamischen Weinbau

VON STEPHAN REINHARDT

Oktober 2005, Château de la Roche aux Moines, Savennières, Loire. Nicolas Joly ist aufgekratzt: „Ich bin nicht technikfeindlich, aber was bitte hat dies hier mit der Wahrhaftigkeit von Wein zu tun?“ Der Winzer, der mit dem Clos de la Coulée de Serrant einen der berühmtesten und eigenartigsten Weißweine Frankreichs erzeugt und als moralisierender Wanderprediger des biodynamischen Weinbaus gelten darf, reicht einen Katalog, der eine ganze Reihe unterschiedlicher Hefezüchtungen für alle wichtigen Rebsorten auflistet. Für Cabernet Sauvignon wird unter anderem „BDX“ empfohlen: „Verleiht Mundgefühl, Beeren, Pflaumen, Konfitüre. Klassisches Bordeaux-Profil. Verstärkt die Tanninstruktur.“

Die Winzer haben die Wahl, während der Konsument vom Naturwein träumt. „Zwanzig Jahre lang haben die Asiaten geglaubt, ein Beaujolais müsse nach Bananen schmecken, weil die Winzer im Beaujolais Hefen benutzt haben, die ihren Gamay nach Bananen haben schmecken lassen. Heute hingegen verwenden sie Hefen, die den Beaujolais nach Cassis schmecken lassen – und die Japaner verstehen die Welt nicht mehr.“ Dass so etwas möglich ist, ärgert Joly weit weniger, als dass derartige Manipulationen das Gütesiegel der Behörden erhalten, die kontrollierte französische Herkunftsbezeichnung AOC. Wie kann man eine Herkunftsgarantie geben, wenn Hefen und Enzyme den Wein schminken wie einen Zirkusclown?“

Dabei geht es Joly nicht einmal um guten oder schlechten Wein. Sondern um Wahrheit. „Bevor ein Wein gut ist, muss er wahr sein“, fasst er seine Weinästhetik zusammen. So wie die Callas eine wahrhaftigere Violetta gewesen sei als die Netrebko, da sie im Wahn und im Angesicht ihres Rollentodes den hässlichen Ton nicht scheute, während die andere in Schönheit und im Wohlklang stirbt. „Es geht beim Wein nicht um einen Schönheitspreis, sondern um Individualität, Originalität und Authentizität. Den reinen Ausdruck seiner Natur. Hier ist das Unperfekte viel schöner als das Makellose. Ein wahrer Wein bringt die Eigenschaft seiner Herkunft zum Ausdruck, diesen von Ort zu Ort einzigartigen Mix aus Boden, Klima und Rebsorte. Das ist eine ganz andere Art von Schönheit als das klassische Ideal der Makellosigkeit. Es ist eine Schönheit, die von der Natur erschaffen wurde: von der Erde, dem Himmel, dem Licht.“

Wie Joly, so akzeptiert auch Winzerin Lalou Bize-Leroy von der Domaine Leroy in Vosne-Romanée Burgund, ebenfalls Biodynamikerin, einen weniger gut schmeckenden, aber „wahren“, „lebendigen“, seine Herkunft repräsentierenden Wein eher als einen makellosen, ultrageschmeidig schmeckenden „falschen“ und „toten“ Wein, der im Keller mit technischen Mitteln gedopt worden ist und in keinerlei Beziehung mehr zu seinem Wachstum steht. „Ein solcher Wein ist Standardware, er langweilt mich.“ Die Menschen werden so etwas schon bald nicht mehr trinken wollen, ist sie überzeugt. „Sie werden sich fragen, welchen Sinn es hat, zehn Stunden um den Globus zu fliegen, um am anderen Ende der Welt alles genauso vorzufinden wie zu Hause. Die Leute haben schon damit begonnen, nach der Seele des Weins zu fragen.“

Je lustvoller und sinnlicher der ehemals alltägliche Weingenuss wird, umso mehr gerät das konkrete Phänomen des Weinanbaus, der Weinerzeugung wie auch der Wein selbst in den Fokus des Interesses – von Weinerzeugern, Weingenießern, Weinvermarktern. Während diese die Geschmacksvorlieben des Marktes genau und für jedes Absatzland unterschiedlich vermessen und analysieren, um den Wein mit Hilfe der findigen Industrie exakt den Ergebnissen gemäß zu gestalten (sensory marketing), begeben sich Winzer und Wein-Aficionados auf Entdeckungsreise zu dem, was man gemeinhin Terroir nennt – und damit zu jener intellektuell-spirituellen und zutiefst faustischen Hilfskonstruktion, die erklären soll, was den Wein in seinem Innersten zusammenhält. Denn alles, was ist, so das zugrunde liegende Axiom, ist Teil eines großen Plans, eines Systems, einer natürlichen – oder göttlichen? – Ordnung.

Wer Wein nicht einfach zecht um des Zechens willen, wer sich mit ihm auseinandersetzt, ihm zuhört, ihn befragt und betrachtet wie ein Kunstwerk, der versucht, zu ergründen und zu verstehen, warum der Wein so und nicht anders beschaffen ist. Wein wird so zum Gegenstand einer ästhetischen Betrachtung, man könnte sogar sagen: der Kunstkritik. Man will seinem Geheimnis auf die Schliche kommen, sein „Sein“ ergründen und erklären können. Weil es in unserem aufgeklärten und medial bloßgestellten Zeitalter keine Geheimnisse mehr geben darf, nicht einmal in der Liebe und schon gar nicht im Wein.

Die meisten Weine aber haben keine Geheimnisse, sie sind Fruchtbomben, ausgestattet mit hyperreifer Frucht, hyperkonzentriert, hyperextrahiert, von Tannin umstellt und aufgepumpt vom Alkohol. Sie hinterlassen, außer dunklen Flecken, nichts: weder Emotion noch Fantasie, keine Assoziation und keine Erinnerung. Sie entsprechen der Realität derer, die Wein nach fraktionierten Checklisten abarbeiten: Farbe, Fruchtintensität, Dichte, Körper, Tanninbeschaffenheit, Länge … Ein armseliges, die Komplexität eines Weins auf sportliche Disziplinen reduzierendes Sezieren ist das; dem nicht nur frisch geschulte Weinseminaristen huldigen (Spezialgebiet: Sensorik), sondern auch Weinjournalisten. Die verkosten Batterien von Weinen in kürzester Zeit hintereinander weg: fingerhut- und spuckenderweise. Mit der Trinkrealität ihrer Leser haben sie nichts zu tun. Stattdessen versuchen sie, der künstlichen Realität des Verkostungsmarathons zu genügen. Sie betrachten Wein nicht, sie checken und fraktionieren ihn. Für das Erkenntnisinteresse Terroir haben sie keinen Sinn. Denn das spricht mit vornehmer Stimme, es äußert sich subtil, elegant und wundervoll entspannt.

In der aktuellen Ausgabe der Vierteljahresschrift The World of Fine Wine (Heft 13) meditiert der kalifornische Pflanzenbiologe und Winzer Randall Grahm über die Phänomenologie des Terroirs. Er plädiert für eine deutlich verlangsamte und gewissenhaftere Auseinandersetzung mit Wein. Nicht mit kommerziellen Weinen, sondern mit großen, komplexen, von ihrer Herkunft geprägten Weinen. In diesen spiegelt sich die mitunter generationenübergreifende Interaktion der Rebe mit ihrer physikalischen wie auch historisch und kulturell geprägten Umwelt. Der Mensch als Winzer – bei Joly und Leroy eher Handlanger und Erfüllungsgehilfe oder Mediator der kosmischen Kräfte und Säfte – ist bei Grahm aktiv am Werden des Weins beteiligt. Auch Grahm hält die das biologische Gleichgewicht des Weinbergs mit Hilfe des Mondkalenders und speziell dynamisierter Präparate herstellende biodynamische Bewirtschaftung für die einzig mögliche, um im Wein dem Terroir zum Ausdruck zu verhelfen. Zugleich begreift er die Biodynamik als Methode, in der der von der Natur entfremdete Mensch im wahren Wortsinn „erdet“ und zur Natur zurückfindet. Indem er seine Sinne für ihre Prozesse sensibilisiert und sie adaptieren und antizipieren lernt. Das Terroir-Konstrukt ist für Grahm auch ein atavistisches Phänomen des zutiefst menschlichen Bedürfnisses, Teil der Natur zu sein.

Für den Weinkonsumenten ist ein erster Schritt getan, wenn er sich die Problematik um die Herkunft des Weins, seine Erzeugungsmethode und seinen Geschmack bewusst und gewissenhaft vergegenwärtigt. Und wenn er dabei den Wein nicht einfach danach abschmeckt, ob er nun lecker ist oder nicht. Sondern ob er wahr ist. Ob er auch hält, was seine Herkunftsangabe verspricht.

STEPHAN REINHARDT, Jahrgang 1967, ist freier Journalist und Autor in Hamburg