„Wissen ist Zufall“

Was macht das Gehirn mit der Information? Ein Gespräch mit dem österreichischen Experimentalphysiker Werner Gruber über das explizite und das implizite Gedächtnis und warum es keine Reizüberflutung gibt

■ Werner Gruber arbeitet seit 1999 am Institut für Experimentalphysik der Universität Wien und ist Autor von zahlreichen populärwissenschaftlichen Büchern. Der 40-Jährige ist auch Mitglied des wissenschaftlichen Kabaretttrios „Science Busters“. Zuletzt erschien im Ecowin Verlag: „Die Genussformel. Kulinarische Physik“.

INTERVIEW: MAXIMILIAN BRUSTBAUER
UND LINDA RUSTEMEIER

Herr Gruber, wie werden Informationen verarbeitet und wie nehmen sie den Weg ins Gedächtnis?

Werner Gruber: Das sind die großen Fragen der Neurowissenschaften, aber die Begriffe Information und Gedächtnis sind nicht klar definiert. Es gibt grob gesprochen zwei Arten von Gedächtnis: das explizite und das implizite. Beim expliziten Gedächtnis handelt es sich um das „Schulgedächtnis“, das, was man im Allgemeinen auch als Gedächtnis bezeichnet. Hier machen Fragen Sinn. So kann man auf die Frage „Wie heißt die Hauptstadt von Frankreich?“ mit „Paris“ antworten. Beim impliziten Gedächtnis handelt es sich um das Bewegungs-, Sprach- und Emotionsgedächtnis. Wir müssen nicht darüber nachdenken, wie wir es anwenden – wir tun es einfach. Hier machen Fragen keinen Sinn. „Wie geht man?“, oder „Wie lauten die Grundregeln der Muttersprache?“ Jeder kann zwar seine Muttersprache, aber wer kennt schon die Grammatikregeln?

Wie nehmen nun die Signale aus der Umwelt den Weg in das Gedächtnis?

Die Signale gelangen zuerst in einen Bereich, in dem sie vorverarbeitet werden. Ist die Information neu genug oder verblüffend oder im Widerspruch zu dem bisher Bekannten, so beginnen wir darüber „nachzudenken“. Die Information wird in einem Zwischenspeicher – dem Hippocampus – gespeichert. Dort bleiben die Signale für rund 8 bis 72 Stunden liegen. Während wir schlafen, werden die Signale dann in das Langzeitgedächtnis überspielt. Dies ist aber ein zufälliger Prozess – es kann passieren, dass gar nichts übertragen wird –, es hängt vom Zufall ab! Das wäre im Moment das Standardmodell für explizites Gedächtnis. Dabei sollte aber eines bedacht werden: Ist die Information zu neu oder ist sie mit den bisherigen Informationen nicht kompatibel, so kann sie auch nicht gespeichert werden. Sieht ein Physiker eine Formel, so kann er sie leicht speichern, ein Nichtphysiker ist damit massiv überfordert.

Was ist Wissen?

Vom Standpunkt der Neurowissenschaft kann die Frage so nicht beantwortet werden. Alles was wir anwenden können, kann als Wissen bezeichnet werden, also auch die Sprache, die Bewegungsprogramme (gehen oder auch tanzen) oder auch alle Informationen, die wir bisher gespeichert haben – egal ob kurz- oder langzeitmäßig. Hier haben wir das Problem, dass Allgemeinwissen mit Fachwissen nicht kompatibel ist. Ein Neurowissenschaftler würde den Begriff Wissen überhaupt nicht verwenden.

Gibt es eigentlich eine Reizüberflutung?

Nein. Gelangen zu viele Signale in zu kurzer Zeit in das Gehirn, so werden wir nach kurzer Zeit müde beziehungsweise werden nur teilweise Signale im Gehirn aufgenommen. Problematisch ist es, wenn widersprüchliche Informationen in das Gehirn gelangen – sie können nicht in das bisherige Schema eingepasst werden. Damit werden sie nicht bewertet, und damit sind sie für das Gehirn verloren. Wichtig für die Informationsspeicherung ist der emotionale Gehalt: Je mehr unterschiedliche Signalwege (sehen, hören, tasten, riechen) genutzt werden und je stimmiger diese Signale in sich sind, umso eher werden sie langfristig gespeichert.

Was sagen Sie zur Auflehnung gegen die Reizüberflutung?

Gibt es die denn überhaupt?