„Vielleicht wird man einfach mit dem Alter konservativ“

NACHWUCHS Gesine Agena hat nicht nur die Haare schön. Die gerade im Amt bestätigte Sprecherin der Grünen Jugend spricht über Berufspolitik, ihr Missfallen über Junge-Union-Chef Philipp Mißfelder und über die Veränderung der Welt

■ Persönlich: Gesine Agena wurde 1987 im niedersächsischen Norden geboren. Sie und ihre Schwester wuchsen auf einem Bioland-Bauernhof in einem Dorf namens Schoonorth auf. Nach dem Abitur machte sie Praktika bei dem Bundestagsabgeordneten Thilo Hoppe und in der Bundesgeschäftsstelle der Grünen Jugend. Seit 2008 studiert sie Politik und Soziologie an der Universität Potsdam.

■ Politisch: In der Grünen Jugend war Gesine Agena zunächst ab 2008 Beisitzerin im Bundesvorstand. Ein Jahr später wurde sie in einer Kampfkandidatur zur Sprecherin gewählt. Beim Bundeskongress am vergangenen Wochenende wurde sie mit 83 Prozent wiedergewählt.

INTERVIEW MATTHIAS LOHRE
UND LUISE STROTHMANN

taz: Frau Agena, wie lange brauchen Sie eigentlich morgens für ihre Haare?

Gesine Agena: Das geht ganz schnell, so zwei, drei Minuten. Klemmen rein und fertig.

Ihr Name ist noch nicht allen geläufig, aber häufig kommt: „Ach, die mit den Haaren!“

Tja, das ist eben meine Frisur. Aber ich habe keine Angst, auf Äußerlichkeiten reduziert zu werden, falls Sie das meinen.

Momentan gibt es ja auch keinen Grund, etwas zu ändern. Am vergangenen Wochenende wurden Sie für ein weiteres Jahr zur Sprecherin der Grünen Jugend gewählt.

Als ich das erste Mal Sprecherin geworden bin, war das schon noch etwas anderes. Ich wurde sonntags gewählt, bin montags morgens aufgewacht, und sofort hat jemand vom Radio angerufen und mir irgendwelche Fragen gestellt. Und da musste ich dann Antworten geben. Aber so schwierig ist das gar nicht, man kommt da rein.

Sie sitzen nie in einer Talkshow und denken für einen Moment: Was mache ich eigentlich hier?

Warum sollte ich nicht den Anspruch haben, genauso Politikerin zu sein wie die anderen? Auch wenn neben mir Philipp Mißfelder sitzt von der Jungen Union, der 31 ist und schon Bundestagsabgeordneter, und mich fragt: Wir haben jetzt 120.000 Mitglieder, wie viele haben Sie denn? – und er weiß genau, dass die Grüne Jugend 8.000 Mitglieder hat. Klar, so was ist komisch. Aber ich denke mir dann, ich bin genauso Politikerin, auch mit 23.

Was bedeutet das: Politikerin sein?

Das bedeutet, dass man den Anspruch hat, Antworten zu finden auf große gesellschaftliche und ökologische Fragen und dabei über den jetzigen Tag hinaus denkt. Das ist Politik machen, glaube ich.

Ist das wirklich Politik machen, zu jedem Thema etwas sagen zu können?

Das ist eines der Hauptprobleme aller Politiker. Politik ist einfach ein permanentes Rennen: Man rennt immer hinterher, man hat immer sein Blackberry dabei und guckt mal schnell was nach. Aber man muss eben versuchen, das andere irgendwie unterzubringen: Tagungen, Diskussionen, Bücher lesen, mit Leuten außerhalb der Politik reden. Und ein Kompass aus festen Grundüberzeugungen hilft natürlich.

Sie kommen vom Biobauernhof und sind mit Werten groß geworden, für die andere erst aus ihrem Milieu ausbrechen mussten. Sind Sie quasi von Geburt an alternativ?

Dort, wo ich herkomme, war es schon etwas Besonderes, von einem Biolandhof zu kommen. Das fanden alle erst mal komisch. Das war ja ein ganz kleiner Ort direkt an der Nordseeküste. Meine Mutter ist Lehrerin, und mein Vater hat diesen Hof, dadurch war ich schon ein bisschen anders als andere Kinder.

Das Ökomädchen?

Ja, genau. Bei uns gab’s nie Cola, es gab immer nur Bioland-Apfelsaft. Nie Weißmehlbrötchen, sondern immer nur Vollkornbrot. Wenn man damit aufwächst und in der Schule dann merkt, bei anderen Leuten ist das anders, und die finden das seltsam, dann war das als Kind schon auch schwierig.

Und was war die Lösung?

Ich bin ein Jahr weggegangen, nach Barcelona. Und habe dann irgendwann meine eigene politische Meinung gefunden – und gemerkt, dass einiges, was meine Eltern gemacht haben, richtig ist.

Aber wie kann man denn rebellieren, wenn man im Grunde das weiterführt, was die Eltern machen?

Mittlerweile habe ich schon radikalere Antworten als meine Eltern. Ich streite mich oft mit meinem Vater über Politik, weil er einfach viele Sachen, bis auf diese Ökologiegeschichte, ganz anders sieht als ich. Wo ich dann manchmal denke: oh Mann! Zum Beispiel in der Sozialpolitik, da bin ich für ein bedingungsloses Grundeinkommen – und mein Vater nicht.

Also funktioniert diese Rebellion, weil die alten Ökos konservativ geworden sind?

Vielleicht wird man einfach mit dem Alter konservativer. Ich hoffe nicht, aber vielleicht ist das so. Ich kenne aber auch viele Menschen, die älter sind als 30 und immer noch links.

Was die Grüne Jugend will, ist ja vielen auch nicht so klar. „Wir streben eine grundsätzliche Veränderung von Staat und Gesellschaft an“, steht in Ihrem neuen Grundsatzprogramm. Werden Sie bald vom Verfassungsschutz beobachtet?

Ich persönlich habe keine Angst vor dem Verfassungsschutz. Aber der grundlegende Anspruch hinter diesem Programm ist eben: Wir wollen die Welt verändern. Und ich habe oft bei vielen das Gefühl, dass sie das eigentlich nicht wollen, dass sie sich so in diesem System ganz wohlfühlen.

Trotzdem bleibt das ein Experimentierkasten ohne Folgen. Die Jungen von CDU und SPD planen gezielt ihre Karriere.

Wir sind kein Spielplatz, aber eben auch keine Kaderschmiede. Den meisten von uns ist es eben wichtiger, an einer Castor-Blockade teilzunehmen, als an ihrer Karriere zu feilen. Und trotzdem sind jetzt mehrere Mitglieder der Grünen Jugend im Bundestag.

Die Grünen sind in einem Umfragehoch, wenn das so weitergeht, müssen bei der nächsten Wahl eilig irgendwelche Leute die Parlamentssitze und Mitarbeiterposten besetzen.

So viele Abgeordnete mehr werden es dann auch nicht sein, vielleicht 100 statt wie bisher 68.

Sie wollen doch nicht erzählen, dass niemand bei Ihnen darüber nachdenkt, dass es gerade ein günstiger Zeitpunkt ist, sich in Stellung zu bringen?

Ich weiß gar nicht, ob man sich auf diese Umfragen so verlassen sollte. Wer weiß schon, was passiert? Vielleicht sind wir in drei Jahren wieder bei zehn Prozent. Und abgesehen davon: Man muss doch nicht im Bundestag sitzen, um was ändern zu können.

Sie sind jedenfalls gut in Stellung: Direkt nach dem Abitur ein Praktikum im Bundestag, dann noch eins bei der Bundesgeschäftsstelle der Grünen Jugend, dann Sprecherin.

Das Komische ist, dass ich das nicht geplant habe. Es war mehr Zufall, dass ich diese Praktika gemacht habe. Ich bin da eher reingewachsen, dann in den Bundesvorstand gekommen, Sprecherin geworden.

Aber Sie wurden auch nicht hineingeworfen.

Das stimmt schon. Aber ich habe mir nicht nach dem Abitur gedacht: In zehn Jahren will ich im Bundestag sein.

Vielleicht läuft das ja heute auch anders. Sie wohnen mit Grünen zusammen, haben Grüne als Freunde. Entsteht Politik einfach am WG-Küchentisch?

Das ist grundsätzlich etwas Schönes an der Grünen Jugend – und auch ein Unterschied zum Beispiel zur Jungen Union: Wir sind eine Gruppe von Leuten, die Politik nicht als Einzelkämpfersache begreifen, sondern die neben dem Politikmachen auch zusammen feiert und miteinander befreundet ist.

Im Sommer haben mehrere jung-grüne Paare geheiratet.

Leute denken zusammen darüber nach, wie die Welt aussehen soll, verstehen sich, und jetzt werden sie erwachsener und heiraten irgendwann – so läuft das eben, auch wenn Heiraten nicht meine Idee von Familie ist. Ich glaube schon, dass die Grünen auch so angefangen haben. Wenn man sich die Grünen-Spitzenleute so anguckt: Die meisten kennen sich ja auch von früher von irgendwelchen K-Gruppen oder ich weiß nicht was. Das ist ja das Gleiche, nur dass die Grünen mittlerweile eine wichtige Partei sind. Wir fangen gerade erst an.

Aber ist das nicht auch komisch? Wenn die anderen Freunde bei Partys sagen: ach, schon wieder alles nur Grüne-Jugend-Leute.

Schon. Es ist eine Aufgabe, sich die Welt außerhalb der Grünen-Welt zu erhalten.

Und wie finden das die Leute an der Uni, wenn Sie abends bei Phoenix im Fernsehen saßen?

Die finden das spannend. Für mich ist das manchmal etwas anstrengend, weil ich denke, ich bin jetzt an der Uni und habe mit dem ganzen Politikkram mal nichts mehr zu tun. Und dann muss ich doch immer darüber reden, was die Grünen gerade machen.

Sind die jungen Grünen eine Gefahr für die erwachsenen Grünen?

Warum das denn? Es ist wichtig für die Partei, eine Jugendorganisation zu haben, die unabhängig ist und kritisch. Wir haben in den letzten Jahren auch mal Debatten losgetreten, die es sonst nicht gegeben hätte.

Wollen Sie die Grünen als Partei so groß haben, wie sie jetzt gerade ist?

Uns wird als Grüner Jugend immer vorgeworfen, dass wir gar nicht wachsen wollen. Aber ich finde es gut, wenn mehr Leute die Grünen wählen. Nur wachsen um jeden Preis finde ich blöd. Die Aufgabe der Grünen ist es, radikale, den Problemen angemessene Positionen zu vertreten, auch wenn das mal Wählerstimmen kostet. Und auf der anderen Seite Konzepte vorzulegen, damit man 2013 nicht in einer eventuellen Regierung dasteht und sich der Azubi unter sozialer Gerechtigkeit etwas ganz anderes vorgestellt hat als die Juristin aus Bayern, die merkt, dass sie jetzt dafür bezahlen soll, was wir als soziale Gerechtigkeit verkauft haben. Das heißt, man kann nicht nur von Werten reden, sondern muss den Leuten konkret sagen, was man machen will.

Was ist so eine radikale Position, die Ihnen am Herzen liegt?

Was mich jetzt gerade ziemlich bewegt, ist diese Integrationsgeschichte. Da vertreten Teile der Grünen meiner Meinung nach noch nicht die richtige Haltung.

Was wäre denn da Ihre politische Antwort?

Wir wollen, dass alle Menschen ein Wahlrecht haben und Zugang zu Bildung und Arbeit – was heute überhaupt nicht gegeben ist. Diese ganze Integrationsdebatte ist doch verrückt. Wir erwarten von den Menschen, dass sie sich hier einfach so anpassen. Über die deutsche Mehrheitsgesellschaft und über Rassismus redet niemand. Diese Vorstellung davon, was „deutsch“ ist und was nicht, das ist doch Blödsinn. Wir wollen deshalb zum Beispiel auch die Nationalstaaten abschaffen, weil sie ein Zugehörigkeitsgefühl schaffen, das immer auch ausschließt.

Und wie soll das funktionieren?

Das passiert doch schon, zum Beispiel durch das Zusammenwachsen Europas, durch die Entstehung einer europäischen Identität. Da werden Nationalstaaten langfristig überflüssig. Wichtiger werden sollten stattdessen die Kommunen. Entscheidungen müssen immer auf der nächstliegenden Verwaltungsebene getroffen werden. Aber die Zugehörigkeit zu einer Nation fällt weg. Dann definiert sich nicht mehr jeder einzelne Mensch über die Flagge, die vor seinem Haus steht. Oder über die Hymne, die beim Fußballspiel gesungen wird.

Die Organisation: Die Grüne Jugend ist ein Zwitter. Einerseits ist sie in den sechzehn Jahren seit ihrer Gründung zur Kaderschmiede der Mutterpartei geworden. Viele Nachwuchspolitiker entstammen dem Verband. Andererseits besteht die Grüne Jugend auf Eigenständigkeit. Wer dort aktiv ist, muss nicht Parteimitglied sein. Anders als bei Jusos oder Junger Union endet die Mitgliedschaft in der Regel am 28. Geburtstag, nicht erst mit Mitte 30. Viele engagieren sich bereits zu Schulzeiten. Das Logo der Grünen Jugend ist der Igel.

Das Programm: Bei ihrem Bundeskongress am vergangenen Wochenende hat sich die Grüne Jugend das zweite Grundsatzprogramm ihrer Geschichte gegeben. Darin fordert sie radikale Änderungen am kapitalistischen Wirtschaftssystem. Mit Gesine Agena und der zweiten neu gewählten Sprecherin, der 25-jährigen Juristin Emily Büning, hat die Grüne Jugend erstmals eine weibliche Doppelspitze.

Aber das ist doch naiv. Wer Staaten abschafft, schafft noch lange nicht die Sehnsucht vieler Menschen nach regionaler Zugehörigkeit ab.

Aber warum müssen Menschen sich denn zu einer Region zugehörig fühlen?

Weil sie sich als etwas Besonderes und irgendwo verwurzelt fühlen wollen.

Aber jeder Mensch ist doch an sich einzigartig. Und sobald Menschen sich zu einer Gruppe zugehörig fühlen, schafft man eine Exklusivität: Ich gehöre dazu und du nicht.

Und auf der höchsten Ebene gibt es dann was – ein Weltparlament?

Genau.

Sagen manche bei der Grünen Jugend da nicht: „Wir machen uns lächerlich“?

Ein paar. Die Debatte auf unserem Bundeskongress am vergangenen Wochenende war da sehr kontrovers – wie immer bei dem Thema. Aber wir haben beschlossen, dass wir die Nationalstaaten abschaffen wollen. Wir haben auch darüber diskutiert, ob man den Kapitalismus abschaffen soll oder ob wir für eine ökosoziale Marktwirtschaft sind. Herausgekommen ist, dass wir den Kapitalismus langfristig überwinden wollen – durch die Einführung einer sogenannten nachhaltigen, solidarischen Wirtschaftsdemokratie.

Sie wissen ja nun genauso gut wie Philipp Mißfelder, dass die Grüne Jugend bloß 8.000 Mitglieder hat. Wie wollen Sie da Ihrem Ziel näher kommen?

Zu unserem Beschluss sagten mir einige Jusos: Dann könnt ihr doch gleich den demokratischen Sozialismus in euer Grundsatzprogramm schreiben. Da hätten wir doch schon einen Bündnispartner. Aber im Ernst: Das ist eine Vision, damit wollen wir ja nicht morgen in die Regierung. Aber wir wollen uns nicht mit dem Status quo abfinden, und dafür braucht es auch Ideen, die nicht in die Tagespolitik passen.

Ist das nicht etwas bequem? Sie formulieren ein Ziel, das chic wirkt, weil es utopisch ist. Aber weil ohnehin jeder weiß, dass Sie es nicht erreichen können, verliert niemand das Gesicht.

Nur weil wir Visionen formulieren, heißt das nicht, dass wir uns nicht mit aktueller Politik befassen. Bei der Steuerdebatte zum Beispiel haben wir der Partei Vorschläge gemacht, wie und wo man Geld sparen und einnehmen kann. Da war die Grüne Jugend ganz pragmatisch.

Haben Sie das Gefühl, Sie sind in den vergangenen Jahren pragmatischer geworden?

Nein, eigentlich nicht. Was ich an Pragmatismus habe, hatte ich vorher schon, das reicht.

Was wollen Sie dann noch lernen in der Politik?

Vielleicht Rhetorik. Aber mir wäre es wichtiger, mir viel von dem zu erhalten, wie ich jetzt bin – nicht abzustumpfen, nicht zu glattgebügelt zu werden.

Glauben Sie, die Diskussionen mit Ihrem Vater werden in Zukunft eher weniger oder mehr?

Wenn es stimmt, dass man konservativer wird, je älter man wird, dann wird es wohl schlimmer. Obwohl: Dann würde ich ja auch konservativer werden. Schauen wir mal. Ich glaube, es bleibt ungefähr so wie jetzt.

Matthias Lohre, 34, ist taz-Parlamentsredakteur und kam sich beim Interview irgendwie alt vor ■ Luise Strothmann, 25, arbeitet in der sonntaz-Redaktion. Sie ist die jüngste Redakteurin der taz