Kein Märchen

Ein schwarzer Junge überlebt in Nazi-Deutschland: Wenn Hans-Jürgen Massaquois Autobiographie „Neger, Neger, Schornsteinfeger“ nicht wahr wäre, könnte man sie kaum erzählen – so unglaublich ist sie. Das ZDF hat die Geschichte verfilmt

„Der Film hat so viel von damals, dass es wehtut. Ich hoffe, dass wir aus diesem Film lernen können“

VON JAN FREITAG

Die Dirigentenmähne, der rote Schal, das ganze Wesen – Ralph Giordano ist pure Ausstrahlung. Sein Wesen zieht alle in ihren Bann. Seine Stimme saugt Geräusche auf und verwandelt sie in Stille. Und manch ein Satz von ihm hat mehr Gewicht als ganze Reden anderer. „Seit 1945 gab es kein Gespräch zwischen Micky und mir“, sagt der große alte Erzähler, „das nicht begann mit: Haben wir das wirklich überlebt?“. Im Publikum herrscht betretenes Schweigen. Wie kann es sein, dass der untergetauchte Sohn einer Jüdin im nationalsozialistischen Hamburg überlebte? Wie konnte sein Jugendfreund Hans-Jürgen Massaquoi, jener Micky, ein Schwarzer unter weißen Rassisten, die Befreiung der gleichen Stadt erleben?

Die mögliche Antwort gibt ein bewegender Film, den das ZDF vor dem morgigen Sendetermin mit Giordano als Kronzeuge der Authentizität in den Hamburger Kammerspielen vorstellte. Er heißt Neger, Neger, Schornsteinfeger und erzählt die Jugend des afrikanischen Diplomatensohnes als Melodram. „Wenn jemand diese Geschichte erfunden hätte, hätte man das als Märchen abgetan“, mutmaßt der Programmchef des Zweiten über die Autobiografie Hans-Jürgen Massaquois.

In der Tat. Ein dramatisches, grausames, schönes Märchen, eines über menschliche Abgründe und ihre Opfer, über Liebe, Mut, Verzweiflung und Hass. Eines, wie die wahre Lebensgeschichte des dunkelhäutigen Jungen, der wie durch ein Wunder Deutschlands schrecklichste Zeit überstanden hat. Kein Wunder, dass sich die Produzenten gleich nach Veröffentlichung des Buches vor sieben Jahren in Stellung brachten. „Ich selbst wollte die Rechte daran haben“, gibt Veronica Ferres, im Film Hans-Jürgen Massaquois Mutter, zu.

Doch die waren bereits vergeben, an die Aspekt Telefilm-Produktion von Gyula Trebitschs Sohn Markus, der eigens von Hamburg in die USA gereist war, um den Autor persönlich von seinen hehren Absichten zu überzeugen. Zum Glück erfolgreich, muss man sagen. Nicht auszudenken, was herausgekommen wäre, hätten die Sturmflut- und Luftbrücke-Realisierer teamworx den Zuschlag für dieses sensible Thema erhalten. Oder noch schlimmer: Die ARD-Groschenromanschmiede Degeto. So liefert der Zweiteiler ansprechende Fernsehunterhaltung der besseren Art, mit einer Veronica Ferres in der weiblichen Hauptrolle, die sich so angenehm wie ungewohnt hinter der Titelfigur zurücknimmt. Mit einer Charakterzeichnung, die weit weniger plump als vergleichbare Stoffe zwischen aufrechten und weniger aufrechten Deutschen differenziert. Vor allem aber mit einer historischen Genauigkeit, die fast als Unterrichtsmaterial taugt.

„Der Film hat so viel von damals, dass es wehtut“, sagt Ralph Giordano und zitiert den Autobiografen, auch er habe es mit großer Bewegung und Anerkennung gesehen, das Werk von Giordanos Gnaden, wenn man so will. Denn ohne den Literaten, wäre es weder zum Buch noch zur Verfilmung gekommen. Als 1984 „Die Bertinis“ erschienen sind, Giordanos persönliche Schicksalsgeschichte einer italienisch-jüdischen Einwandererfamilie im braunen Hamburg, habe er zu Hans-Jürgen Massaquoi gesagt, „jetzt musst du deine Bertinis erzählen“. Und als er das Ergebnis viele Jahre später zum Redigieren auf dem Tisch hatte, riet er ihm zur filmischen Adaption.

In den Kammerspielen liest Giordano eine Passage daraus vor. Mit viel Pathos – der Grandseigneur ist sich seiner Aura sehr bewusst. Er erzählt, wie ihn sein späterer Kumpel Hans-Jürgen 1932 im Arbeiterstadtteil Barmbek kennen lernte – „bei einer Klopperei“. Wie sie sich verloren und ein Jahr vor Kriegsende wieder fanden – „unter tödlicher Bedrohung“. Und er erzählt all dies, weil er in sich ein unstillbares Bedürfnis nach Mahnung verspürt. „Ich hoffe, dass wir aus diesem Film lernen können“, sagt er. Denn Hitler sei zwar militärisch besiegt, „nicht aber in den Köpfen“.

Wie sehr, wurde dem Filmteam besonders am Set von Wittenberge bewusst. Dort, in der früheren DDR, habe man erlebt wie virulent der Rassismus noch sei, erinnert sich Regisseur Jörg Grünler. Der Film handle zwar im Wesentlichen von kleinen Leuten mit Anstand wie Hans-Jürgen Massaquois einstige Nachbarn, mehr aber noch von Diskriminierung, sagt Grünler. „Und das ist in Zeiten von No-Go-Areas sehr jetztzeitig.“ Die drei Darsteller Hans-Jürgen Massaquois konnten dies am eigenen Leib erfahren. Der Hamburger Steve-Marvin Dwumah etwa, der den Zehnjährigen spielt, berichtet von Mitschülern, die ihn als Neger beschimpfen, und Wittenberger Jugendlichen, die ihn am Drehort gar angegriffen hätten.

Der riesige Filmtross musste für sein fünf-Millionen-Euro-Projekt Richtung Osten emigrieren, weil sich in Hamburg selbst keine Straßenzüge wie aus Massaquois Kindheit fanden. Zwischen Hamburg und Berlin aber, wo die Zeit vielerorts stehen geblieben scheint, fanden sich beste Bedingungen für eine Reise in die 19 Jahre zwischen Hans-Jürgens Geburt und den letzten Kriegstagen des Teenagers Micky. Eine absolut authentische Requisite und überzeugende Schauspieler wie Götz Schubert, der den anfangs aufrechten Stiefvater stufenlos auf die gebückte Statur des überzeugten Mitläufers herunterspielt. Wie Helmut Zhuber, der den fanatisch nationalsozialistischen Schuldirektor Wriede mit einem derart menschenverachtenden Zynismus versieht, dass man dem Schauspieler erstmal nicht auf der Straße begegnen möchte. Oder wie die liebenswerten Charly Hübner und Jürgen Tarrach alias Polizist Reesen und Nachbar Mahnke, die indes arg nett geraten sind.

Sieht man mal davon ab, dass für ein bisschen dramaturgische Befreiersolidarität im Schlussakt afroamerikanische statt englischer Soldaten in Hamburg einmarschieren, bemüht sich der Film sichtlich um historische Stringenz. Dass dennoch nicht wahr erscheint, was so erschreckend wahr ist, belegt einer der bizarrsten Erzählstränge der Hamburger Drehbuchautorin Beate Langmaack: Hans-Jürgen Massaquoi, der Ausgegrenzte, dem eine Kneipe voll besoffener SA-Schergen „Rassenschande“ zubrüllt und ein ganzer Schulhof den Filmtitel, ist selbst ein glühender Nazi, sofern das vor der Pubertät geht. Das habe sie am meisten verstört, sagt Veronica Ferres, die zweifellos für die nötige Einschaltquote sorgen könnte.

Denn ohne berühmtes Casting landen selbst die anhaltend boomenden Dramen über Nazis und ihre Widersacher im Spätprogramm statt in der Primetime. Doch mit dieser Besetzung am Schauplatz Hamburg kann eigentlich nichts schief gehen. Schließlich funktioniert Norddeutschland aus Sicht der zuständigen ZDF-Redakteurin Heike Hempel mittlerweile bundesweit von allen Sets am besten. Noch ein Argument für Neger, Neger, Schornsteinfeger. „Sehen Sie sich diesen Film an“, rät Ralph Giordano.

Neger, Neger, Schornsteinfeger. Teil 1 am Sonntag um 20.15 Uhr im ZDF. Teil 2 läuft am Montag.