VOM STRESS EINES FLEXIBILISIERTEN ZWISCHEN EINER TAGUNG IN DER FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG UND DER RECHTEN DEMO AM BREITSCHEIDPLATZ
: Es geschieht am helllichten Tag

Wer geht denn noch im Dunkeln aus? Tagsüber ist das Neue nachts. Und Journalismus der neue Rock. Jakob Augstein, der Herausgeber der Wochenzeitung Freitag, postuliert auf dem Kongress „Öffentlichkeit & Demokratie“ in der Friedrich-Ebert-Stiftung an der Hiroshimastraße: Die Linken kämen zu oft mit hängenden Mundwinkeln daher, stattdessen müsse kritischer Journalismus fröhlich sein und rocken.

Rock ’n’ Roll mit gebeugtem Rücken

Mein graumelierter Nachbar wirkt erst einmal überhaupt nicht rockig. Er inspiziert zwei Minuten mit gebeugtem Rücken den Stuhl neben mir, bevor er sich mit vollem Risikobewusstsein zu dem Fazit versteigt, ja, der Platz sei wohl noch frei. Aber dann zwinkert mir doch der pure Rock ’n’ Roll zu: Unter seinem Fischgrätkragen lugt ein Knutschfleck hervor. Im Dunkeln hätte ich den Fleck niemals erkannt.

Mag Wompel vom anarchosyndikalistischen Labournet, neben Augstein auf dem Podium, röhrt im schnittigen Retrosound etwas von „existenzieller Abhängigkeit vom Wohlverhalten am Arbeitsplatz“ und fordert das „ungehorsame Individuum“. Darauf kann Augstein mit nihilistisch-konfrontativer Punkgeste einsteigen: Er sei utopieavers. Und reden solle man immer für die Leute, die anderer Meinung sind als man selbst.

Nachdem er warnt, das Internet führe zu einer Zersplitterung der Öffentlichkeit in viele Öffentlichkeiten, wandert das Mikrofon ins Publikum. Dieses hat nichts Dringenderes zu tun, als zu beweisen, dass diese Zersplitterung auch offline bestens funktioniert. Jeder sein eigener Popelaktivist, der mit erbsengroßem Weltrettungsprojekt versucht, die „Negation der Negation dialektisch herzustellen“ und der „totalitären Demokratie“ zu trotzen. Das altrömische Rund des Stiftungsauditoriums schrumpft jetzt auf Speakers’-Corner-Format zusammen.

Ganz anderen Anfeindungen wird auf dem Breitscheidplatz getrotzt. Dorthin bringt mich das obligatorische Eventhopping. Heutzutage machen es flexibilisierte Working Poor wie ich nicht unter drei Arbeitgebern und auch nicht unter drei Veranstaltungen pro Abend, sorry, Tag. Auf dem Breitscheidplatz feiern gelackte Anzugträger mit Doc-Martens-Halbschuhen und aufgeschwemmte Gesichtstätowierte gemeinsam eine Vernissage. Es werden handgemalte Bilder mit durchgestrichenen Moscheen hochgehalten. Oder eine Afterhour, es läuft deutsche Countrymusik zu antimuslimischen Parolen.

Indische SS-Truppen, Erfurter Eimer

Irgendwie kann ich mich bei dem aufgeräumten Haufen der „Bürgerbewegung Pax Europa“ weitaus schlechter eingrooven als bei „Öffentlichkeit & Demokratie“. Ein halb jüdischer, halb schwedisch-königlicher CDU-Sympathisant nimmt mich zur Seite. Niemand wage mehr zu sagen, wie es ist, brüllt er mich buschig an. Hitler habe sich eine indische SS-Truppe mit Turbanen gehalten. Solche baumlangen Kerls, das wisse in Indien jedes Schulkind, bumbum, hämmert er mit dem Zeigefinger gegen meine Schulter.

Und „Erfurter Eimer“, schon mal gehört? Unter dem Stichwort wären in DDR-Kliniken Frühgeburten ertränkt worden, die nicht der Norm entsprachen. Der Sozialismus wird siegen, bumbum! Es lebe König Carl Gustaf! Er trägt eine rote Kappe mit dem Schriftzug: „2010 Vollversammlung“. Sonst steht da nichts.

Wenn das nicht viel cooler ist als der Slogan „Wasted German Youth“, der unerschrockenste Politdada. Aber alles wahr, die Vollversammlung, die SS-Turbane, der Erfurter Eimer. Vergessen Sie die Nacht, skandiert er, bumbum, es geschieht am helllichten Tag!