HIER HABEN WIR MAL GELEBT, WIRD MAN IRGENDWANN BEIM VORBEIFAHREN DENKEN
: Vorsichtige Erkundung der Zukunft

Ausgehen und rumstehen

VON ANDREAS BECKER

Klar, die Sonne. Trieb alle nach draußen. Deshalb drinne bleiben? Nur aus Trotz? Nein, es galt wieder einmal neue Möglichkeiten des Draußens zu testen, die einen weder der Dauerbeobachtung durch Touris aussetzen noch die Attraktivität des eigenen Kiezes steigern.

Also auf ins Industriegebiet! Ein Highlight immer wieder die Gegend um den Teltowkanal. Besonders das Autobahndreieck Tempelhof, wo die A 112 von der von Wowi so geliebten A 100 abzweigt. Hier unter und neben den Betonbrücken sind in den letzten Jahren hübsche Parks mit Bänken entstanden, von denen man toll die Lkws über einem zählen kann oder sich vorstellt, wie ein Truck mit 140 km/h aus der Kurve fliegt, vorbei am leer stehenden Sarotti-Komplex und in die Eisenbahnbrücke kracht.

Die Bänke hier hätte man natürlich auch auf dem Flugfeld Tempelhof aufstellen können, aber da darf ja nichts verändert werden. Doofi-Wowi hatte seine Leute ja schon im Herbst einen mehrere Kilometer langen Mietzaun aufs Feld stellen lassen, um seine Vorstellung von „Tempelhofer Freiheit“ auszudrücken. Der Mistzaun wird gerade, ohne je gebraucht worden zu sein, wieder eingepackt. Was wohl das halbe Jahr Miete gekostet hat?

Cyberterroristen aufgepasst, es geht weiter in Richtung Müllverladestelle Gradestraße. Hier ist ein kurzer Stopp zur Besichtigung der wahrscheinlich NSA-verlinkten-Server von Level 3Com (Firmenschild vorhanden) möglich – die stehen gut gekühlt und schlecht gesichert hinter einem Zaun im Garten – schräg gegenüber der BSR. Von hier versuchen wir wieder einmal die „Kolonie Sorgenfrei“ – schon besser mit Stacheldraht bewacht – und „Kolonie Goldregen“ zu durchqueren. Früher wurde man hier auf dem Rad noch von reaktionären Kleingärtnern durch die Hecken beschimpft. Vorbei an pittoresk eingestürzte Gewächshäuser. Unser Ziel: Die Mühle Britz, im Rahmen der Buga 88 aufgehübscht und mit Schafen umhegt. Die sind leider noch irgendwo im Stall.

Dann also Bauernfrühstück im Biergarten mit großem Kindl. Weit und breit keine Hipster oder Touris. Irre. Man kann nicht nur BZ, sondern auch SZ lesen. Nett prollige Fußballfans verraten einem auf dem Klo die Bundesliga-Ergebnisse. Hier wird man also einkehren, wenn man in Nowkölln die Miete nicht mehr zahlen kann und in einem der Hochhäuser an der Parchimer Allee vor sich hin grummelt. Oder geht die Reise dann gleich bis nach Köpenick?

Auch dort gibt‘s „einen Bauern zum Frühstück“ im sogar bei Sonne absolut gut frequentierten Einkaufscenter Forum am S-Bahnhof. Hier darf man sich allerdings nicht von beschrifteten Oberarmen schockieren lassen, auf denen schon mal Eisern Union und „Kategorie C“ (Polizeideutsch für Brutalo-Hool) stehen kann. Aber solche Typen holen „ihren“ Frauen dann brav Kaffee und Kuchen vom Stand um die Ecke.

Und die Menschen lächeln rüber, einfach so. Merkwürdig in solchen Ecken der Stadt: fast keiner scheint die diversen Parks zu mögen. Bänke am Wasser sind frei, Wege leer, nur Richtung Kaufland ist mehr los. Und man kapiert: wir leben in einer komplett sozial segregierten Stadt.

In Köpenick, auf dem Gelände der ehemaligen Filmfabrik, ist es sogar architektonisch interessant. In den ehemaligen Filmbunkern und Labors entstehen „Lofts“, „Riverside-Appartments“ und „Wasserterrassen“. 83 qm für nur knapp 1.700 Euro – warm!

Zurück im Graefekiez sieht man beim Abstellen des Rads die „eigene“ Wohnung von außen. Wahrscheinlich schauen sich reiche Studenteneltern grade im Haus die neue Eigentumswohnung für ihre Kleinen an. Hier haben wir mal gelebt, wird man irgendwann beim Vorbeifahren denken.