Mexiko: Ohne Neuauszählung der Wahl droht die weitere Eskalation
: Kein Vertrauen in alte Strukturen

Man muss das Vorgehen von Mexikos Präsidentschaftskandidat Andrés Manuel López Obrador nicht gutheißen. Die unumstößliche Gewissheit, mit der von einem Wahlbetrug geredet wird oder der selektive Blick, der als „Volk“ nur jene wahrnimmt, die zu den eigenen Unterstützern zählen, werfen zweifellos Fragen auf. Dennoch greifen die Analysen zu kurz, mit denen mexikanische Liberale oder internationale Pressevertreter die „Bewegung gegen den Wahlbetrug“ abqualifizieren. López Obrador versuche auf der Straße durchzusetzen, was ihm an den Urnen nicht gelungen sei, so die gängige Meinung.

Doch damit ist nicht erklärt, warum zwei Monate nach den Präsidentschaftswahlen vom 2. Juli immer noch Tausende das Zentrum von Mexiko-Stadt mit einem Zeltlager blockieren, um eine komplette Neuauszählung durchzusetzen. Ein beachtlicher Teil derer, die López Obrador verteidigen, haben für den Politiker nicht unbedingt viel übrig. Doch ihr Vertrauen gegenüber staatlichen Institutionen ist zu Recht gering: Über 70 Jahre kamen Regierungen wie selbstverständlich durch Betrug an die Macht. Auch heute noch werden ständig Korruptionsskandale bekannt.

Warum sollte man nun ausgerechnet jenen glauben, von denen man sein Leben lang betrogen wurde? Viele der Protestierer haben es satt, immer nur zu den Opfern dieser Verhältnisse zu zählen. Sie wollen, dass ihre Stimme ernst genommen wird. Allein der Verdacht, dass ihr Kandidat durch Betrug am Sieg gehindert wurde, treibt sie auf die Barrikaden. Es mag juristisch korrekt sein, dass das Wahlgericht eine Neuauszählung abgelehnt hat. Politisch ist diese Entscheidung fatal. Sie bestätigt das Ohnmachtsgefühl der Armutsbevölkerung. Nachdem am Freitag Abgeordnete von Obradors Partei den scheidenden Präsidenten daran hinderten, seinen Rechenschaftsbericht vorzulesen, herrschte Siegesstimmung unter den Aktivisten. Bis Mittwoch muss der Staatschef ernannt werden. Alles spricht dafür, dass dies der Konservative Felipe Calderón sein wird. Damit ist eine weitere Eskalation programmiert. WOLF-DIETER VOGEL