EU-Norderweiterung abgesagt

ISLAND Kaum dass die Finanzkrise halbwegs überwunden ist, zieht die Regierung in Reykjavík ihren Beitrittsantrag zurück, nicht zuletzt aus Sorge um ihren Fischfang

Weniger als ein Drittel der IsländerInnen befürwortet noch einen EU-Beitritt

VON REINHARD WOLFF

STOCKHOLM taz | Island will nicht mehr EU-Mitglied werden und zieht den vor fünf Jahren gestellten EU-Beitrittsantrag zurück. Diese Ankündigung machte die Mitte-rechts-Regierung am Freitag im Parlament in Reykjavík und beendete damit auch formal das Beitrittsverfahren. Im vergangenen Jahr waren die Verhandlungen mit der EU bereits auf Eis gelegt worden.

Die Absicht eines EU-Beitritts habe auf falschen Erwartungen beruht, fasste Außenminister Gunnar Bragi Sveinsson einen dem Parlament gleichzeitig vorgelegten Bericht über die bisherigen Verhandlungen zusammen. Vor allem habe ein kleines Land wie Island keine echte Chance, seinen Interessen innerhalb der Union Gehör zu verschaffen, so der Minister: Was Brüssel von Island verlange, sei eine „Zwangsanpassung“. Deshalb halte es die Regierung für „verantwortungslos“, noch weiter zu verhandeln.

Dabei verweist die Regierung zum einen auf einen Streit über Heringfangquoten zwischen der EU und Island sowie den Färöer-Inseln, zum anderen auf die Auseinandersetzung über die Entschädigung von Kunden der bankrotten Icesave-Bank. Bei beiden Themen hätten EU-Mitgliedsländer Brüssel gedrängt, Druck auf Island auszuüben mit der Drohung, die Beitrittsverhandlungen andernfalls auszusetzen. Solchen Erpressungsversuchen habe sich die EU-Kommission nicht widersetzt.

Tatsächlich scheint eine Einigung beim Thema Fischerei schwer vorstellbar angesichts der Unfähigkeit beider Seiten, auch nur den aktuellen Quotenstreit zu lösen. Die atlantischen Heringsschwärme haben aufgrund der Klimaerwärmung ihre Routen geändert und halten sich nun während der Sommermonate verstärkt in nordwestlicheren Gewässern und damit in der isländischen Wirtschaftszone auf. Die EU meinte zunächst, sie könne Island den Fang dieser „Klimaflüchtlinge“ ganz einfach verbieten, und lehnte sogar Quotenverhandlungen mit Island ab. Island stellte sich hingegen auf den Standpunkt, in seiner Fischereizone selbstständig über Fangquoten entscheiden zu können. Zwar gibt es mittlerweile Verhandlungen, doch werden diese in Island eher als Diktat empfunden. Sogar EU-freundliche PolitikerInnen des Landes werfen Brüssel imperialistische Methoden vor.

Mittlerweile befürwortet laut einer aktuellen Umfrage weniger als ein Drittel der IsländerInnen einen EU-Beitritt. Neben den Fischereistreitigkeiten – die Branche ist die wichtigste für die Wirtschaft des Landes – spielt dabei die Icesave-Frage eine maßgebliche Rolle. Die Bank, eine Tochter der isländischen Landsbanki, die vor allem in Großbritannien und den Niederlanden mit rekordhohen Zinsen Hunderttausende SparerInnen gelockt hatte, war im Oktober 2008 zusammengebrochen. Weil damals alle drei isländischen Privatbanken gleichzeitig kippten, erwies sich der Einlagensicherungsfonds als völlig unzureichend.

Um einen Run auf die Banken zu verhindern, ersetzten die britische und die niederländische Regierung die Icesave-Einlagen ihrer StaatsbürgerInnen aus eigener Kasse und wollten sich diese knapp 4 Milliarden Euro von der isländischen Staatskasse ersetzen lassen. Tatsächlich schloss Reykjavík nach massivem Druck aus Brüssel, inklusive der Androhung von Handels- und Finanzsanktionen, zweimal entsprechende Abkommen, die aber in Volksabstimmungen gekippt wurden. Im Januar 2012 gab der EU-Gerichtshof den IsländerInnen recht: Es gebe keine Rechtsgrundlage für solche Forderungen.

Angesichts dieser EU-Erfahrungen haben die Befürworter einer EU-Mitgliedschaft, die vor allem bei den linken Parteien zu finden sind, einen schweren Stand. Sie werfen der Regierung gleichwohl vor, nicht wenigstens auszuloten, was wirklich erreichbar sei. Vor allem aber gebe sie der Bevölkerung nicht die Möglichkeit, in einer Volksabstimmung selbst über die EU-Frage entscheiden zu können.

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