Der letzte Wikinger

Der Abenteurer und Weltumsegler Burghard Pieske hat bei Oldenburg in Holstein ein Wikingerdorf gegründet. Drei Wochen lebt er dort mit über hundert Freiwilligen unter historischen Bedingungen. Danach bricht er wieder auf zu neuen Ufern

„Zuckerwatte oder laute Heavy-Metal-Musik wird es bei mir nicht geben. Das ist schließlich kein Karneval“, sagt Pieske

von LUCAS VOGELSANG

Weißer Bart, eine Haut wie gegerbtes Leder. Die Erinnerung an tausende von Seemeilen, das Salz des Meeres und der Wind der Ozeane liegen in seinen Gesichtszügen. Burghard Pieske steht vor einem Drachenschiff und erzählt Kindern von seinem harten Leben als Wikinger. Der preisgekrönte Weltumsegler ist der Anführer und Bürgermeister des „Slawenlandes“ in Oldenburg und hier, obwohl er fast sein gesamtes Leben auf dem Wasser verbracht hat, spürbar in seinem Element. In seiner Tunika und mit der Fellmütze auf dem Kopf ist der Wikinger Pieske mehr als eine Rolle. Er ist eine Lebensauffassung.

Der Abenteurer, der zwischen 1977 und 1987 mit einem selbst gebauten Katamaran „Shangri-La“ einmal um den Globus gesegelt ist, hat in Ostholstein ein Wikinger-Dorf geschaffen. Dabei ist er einer Vision gefolgt. An einem Abend vor mehr als vier Jahren stand er auf der Wiese gegenüber des Oldenburger Wallmuseums und blickte über den Weiher. „Im Sonnenuntergang konnte ich es plötzlich alles sehen. Das Dorf, die Schiffe,“ schildert Pieske seine Eingebung.

Mit Hilfe von Freiwilligen hat Pieske den Alltag der nordischen Völker, der in den Vitrinen zu verstauben drohte, in die Natur geholt. Die Hügel, das Wasser und die kleine Insel keine 500 Meter Luftlinie von der A1 waren wie geschaffen für sein Real-Life-Theaterstück über die Wikinger und Slawen. „Das hier“, sagt Pieske und macht eine ausladende Armbewegung, als würde er das ganze Land unter seiner Tunika verstecken wollen „ist ein Amphitheater der Natur.“

Auf dieser Bühne zeigt Pieske das Leben von damals mit Menschen von heute und ist damit unfreiwilliger Trendsetter für Fernseh-Formate wie „Abenteuer 1900“. Die Bewohner des Slawenlandes wohnen drei Wochen lang innerhalb eines 300 Meter langen Palisadenzauns. Es gibt einen Schmied, Gerber, Bogenmacher und einfache Hirten. Kinder tollen barfuß zwischen den Zelten. Ein junger Mann mit langem braunen Haar übt mit einem echten Schwert für einen gestellten Kampf. In den Zelten hängen Felle und Waffen. In einer Feuerstelle davor glimmt noch das Holz der letzten Nacht. Darüber hängt ein schwarzer Kupferkessel mit Wasser.

Auch tagsüber ist es eher ruhig im Dorf. Keine Musik, keine Tombola. Die Attraktion sind die Menschen selbst. „Zuckerwatte oder laute Heavy-Metal-Musik wird es bei mir nicht geben. Das ist hier schließlich kein Karneval“, sagt Pieske. Er will, dass die Gäste im Slawenland etwas lernen und am Ende „mit einem Aha-Effekt hier rausgehen. Auch die Erwachsenen“. Für den ehemaligen Lehrer ist das Slawenland so etwas wie eine interaktive Schule unter freiem Himmel. „Ich werde immer Pädagoge bleiben“, sagt er und ein Lächeln huscht über sein Seemannsgesicht. Man merkt, wie sehr ihm dieses Projekt am Herzen liegt.

Pieske, der 1944 in Lübeck geboren wurde, ist ein Kind Holsteins und nach Jahrzehnten auf den Weltmeeren nicht zufällig wieder hier gelandet. „Dieses Dorf ist mein Dankeschön an Ost-Holstein.“ Ein Dankeschön an sein Abenteuerland, in dem er nach dem Krieg mit Handgranaten gespielt hat und das den Entdecker in ihm geweckt hat.

Mit 16 ist er von zu Hause ausgezogen und dem Lockruf der See gefolgt. Auf dem Weg zum polyglotten Abenteurer durchlief Pieske die gesamte Hierarchie der Handelsmarine bis zum Kapitän. In dieser Zeit war er unter anderem Decksjunge auf der „Passat“ in Travemünde. Ein zwischenzeitlicher Versuch, der Familientradition zu folgen und als Lehrer auf dem Festland sesshaft zu werden, scheiterte.

Immer wieder zog es Pieske zurück aufs Meer. Oft ist er abseits der gängigen Routen gefahren. Viele seiner Expeditionen haben sich auf die Spuren seefahrerischer Höchstleistungen begeben. So machte er sich von Tonga aus auf, um mit einer Schaluppe die Reise des Kapitäns William Bligh nach der Meuterei auf der Bounty nachzuvollziehen. Auf einer seiner Reisen, Anfang der 90er, erkannte Pieske seine Affinität zu den Wikingern. Mit der „Viking Saga“, einem originalgetreuen Nachbau eines Wikinger-Schiffes, ist Pieske von Grönland aus in drei Wochen über den Atlantik nach Neufundland gesegelt. Dabei hat er sich bis ins kleinste Detail an die Route gehalten, die der Wikinger-Kapitän Leif Erikson schon 500 Jahre vor Kolumbus‘ Entdeckung der „Neuen Welt“ genommen hatte.

Ein wichtiger Aspekt der detailgetreuen Überfahrt war auch, dass er und seine zwei Mitfahrer im Drachenschiff ohne Hilfsmotor oder elektronische Geräte auskommen mussten. Für den nautischen Globetrotter ist diese Authenzität wichtig, da er die Leistungen und das mühsame Leben von damals nicht durch technisches Spielzeug verwässern will.

Seine Vorstellung von historischer Wahrhaftigkeit hat er auch in das Slawenland einfließen lassen. „Jeder, der sein Zelt hier stehen hat, muss Vorkenntnisse über das damalige Leben vorweisen und sich in die Dorfgemeinschaft einbringen“, erklärt er. So schlafen die Bewohner ausschließlich auf Schafsfellen. Auch Geld gibt es nicht. „Wie das vor tausend Jahren üblich war, wird hier untereinander getauscht“, sagt Pieske, während er seine Runde durch das Dorf macht.

Burghard Pieske passt an diesen Ort der gefühlten Zeitreise. Doch er wird ihn schon bald wieder verlassen. Der Ruf des Meeres hat ihn einmal mehr ereilt. Mit Jugendlichen, die in den Sumpf aus Langzeitarbeitslosigkeit und wachsender Lethargie geraten sind, will Pieske auf dem historischen Seeweg der Wikinger von Riga nach Odessa segeln. Die Drachenschiffe für diese Reise haben die jungen Männer aus ganz Europa selbst gebaut. Auf dem kleinen Dorfplatz im Slawenland steht ein solches Schiff. Es ist ein greifbares Produkt seiner neuesten Vision, und wenn man es betrachtet, erahnt man das Ausmaß der kommenden Herausforderungen. Burghard Pieske ist sich sicher, dass die Teilnehmer staunen werden, wie hart das Leben als Wikinger ist. „Natürlich werden einige scheitern,“ sagt er, rückt seine Kappe zurecht und blickt an den Zelten vorbei über das Wasser.

Das „Slawenland“ hat bis 20. August täglich von 10 bis 19 Uhr geöffnet