Kunst aus Gummistiefeln

Die Grafschaft Cornwall in Englands äußerstem Südwesten war einst ein wichtiges Industriegebiet. Heute wird das historische Erbe neu entdeckt: von Künstlern, Kelten-Fans und der Tourismusindustrie. Sogar kornische Sprachkurse gibt es wieder

„Die Bewohner Cornwalls recyceln nicht nur Gegenstände, sondern auch ihre Geschichte“

VON SILVIA LIEBERMANN

„Diese Landschaft ist meine Inspiration: postindustriell und voller Geschichte“, sagt der Künstler David Kemp. Bis auf sein Atelier, eine alte Zinnmine, erinnert hier auf den ersten Blick wenig an eine industrielle Vergangenheit. Klippen stürzen sich in die Atlantikgischt, verwitterte Trockensteinmauern durchziehen das Hochmoor.

Doch tatsächlich war dieser Küstenabschnitt, den wir dank Rosamunde Pilcher und dem ZDF als idyllische „Küste der Träume“ und „Klippen der Liebe“ kennen, einst ein wichtiges Industriegebiet. Neben dem Küstenwanderweg, wo heute Touristen die Natur genießen, wurden mehrere Jahrhunderte lang Zinn und Kupfer abgebaut. Im 19. Jahrhundert produzierte die Grafschaft Cornwall über die Hälfte des weltweiten Bedarfs an Kupfer. Noch heute wird der Küstenabschnitt zwischen Land’s End und St. Ives „Tinners Coast“ genannt, Küste der Bergleute.

Als einzige sichtbare Überbleibsel thronen mit Efeu bewachsene Steinruinen auf den Klippen, ehemalige Maschinenhäuser und Kamine der stillgelegten Minen. In einer davon arbeitet David Kemp. Er macht Kunst aus dem, was andere wegwerfen. Seit Jahrzehnten streift er durch die Landschaft, auf der Suche nach neuen Arbeitsmaterialien. Die wenigen Gäste, die der 60-Jährige empfängt, wandeln staunend durch ein Labyrinth aus alten Autoteilen, Computern, Haushaltsgegenständen und rostigen Metallstücken. Aus ihnen entstehen Skulpturen und Installationen, mit denen sich der Schrottkünstler nicht nur in Cornwall einen Namen gemacht hat. Seine Werke stehen an öffentlichen Plätzen in London und Manchester sowie in zahlreichen Galerien.

„Recycling hat in Cornwall eine lange Tradition“, erklärt Kemp die Inspiration für seine Arbeit. „Hier, am äußersten Rand von England, mussten die Menschen schon immer mit dem auskommen, was sie vor ihrer Türe fanden.“ „Bodging“ sagen die Leute dazu: improvisieren, basteln oder auch pfuschen kann das bedeuten. Zu finden gab es an der zerklüfteten Küste vieles. Häufig liefen Schiffe auf Grund, die Wellen transportierten die Ladung an Land. Auch Piraten sollen ihr Unwesen getrieben und Seefahrer mit falschen Lichtsignalen in den Tod getrieben haben.

Doch die Bewohner Cornwalls recyceln nicht nur Gegenstände, sondern auch ihre Geschichte. Wegen billiger Konkurrenz aus Übersee und fallenden Weltmarktpreisen von Zinn und Kupfer wurden im 20. Jahrhundert immer mehr Minen stillgelegt, tausende Bergarbeiter verloren ihre Jobs. Die letzte Zinnmine musste 1998 schließen. Heute vermarktet die Grafschaft ihr industrielles Erbe als Touristenattraktion – in Museen, Besucherzentren, Souvenirshops und auf Postkarten. Besonders beliebt ist bei Besuchern der Region der einstige Bergarbeiter-Snack „Cornish Pasty“.

„Ausverkauf“ nennt David Kemp diese Entwicklung und macht sich lustig über die Touristenscharen, die im Sommer in den kleinen Fischerdörfern einfallen, und Besucherinnen, die auf hohen Schuhen durch alte Zinnminen stöckeln. „Cornwall recycelt seine industrielle Vergangenheit“, sagt er, der selbst genau dasselbe macht, allerdings mit einem ironischen Augenzwinkern. In seinen Arbeiten spielt er mit einem Konzept der Geschichtsverwertung, das Vergangenheit neu erfindet und verfälscht.

Als im Jahr 1990 die benachbarte Geevor-Zinnmine als eine der letzten in Cornwall schloss, wollte man die alten Schuhe der Bergleute entsorgen. „So läuft das immer. Erst wirft man das Alte auf den Müll. Später wird es dann für viel Geld wieder künstlich aufgebaut, poliert und in einen Souvenirshop gestellt“, stellt Kemp fest.

Damit dieses Schicksal nicht die Schuhe der Bergleute ereilen konnte, karrte der Künstler die 500 Paar Gummistiefel in sein Atelier. Es entstand eine Installation, die zum Postkartenmotiv geworden ist. Die „Hounds of Geevor“: Hundeskulpturen aus dreckigen Stiefeln. Stellvertretend für die vielen Arbeiter, die so gut wie nie das Tageslicht erblickten, wandern die Hunde heute die Klippen entlang, erklärt er. „Auf der Suche nach einem neuen Job, den viele von ihnen wohl in der Tourismusindustrie finden.“ Er sagt es spöttisch.

Ian Davey hingegen freut sich über Reisebusse voller Touristen. Der ehemalige Bergarbeiter der Geevor-Zinnmine trug einmal eines jener Paar Gummistiefel. Er ist froh, dass er heute Besucher durch seine einstige Arbeitsstätte führen kann. Er begleitet sie mit der Taschenlampe durch die engen, dunklen Schächte, in denen die Bergleute einst arbeiteten – bis zu sechshundert Meter unter dem Meer. Jagt ihnen staunende Schauer über den Rücken, wenn er erzählt, dass die durchschnittliche Lebenserwartung eines Minenarbeiters aus dem Raum Pendeen Mitte des 19. Jahrhunderts bei 27 Jahren lag.

Gefragt, was er von der Kunst des im Nachbarort lebenden David Kemp halte, muss der ehemalige Bergarbeiter laut lachen. „Fragen Sie mich lieber nicht danach.“ Auch mit den Galerien, die in St. Just immer zahlreicher werden, kann Ian Davey wenig anfangen. Siebzehn Jahre lang hat er unter Tage gearbeitet. „Gute Arbeit, gutes Geld, voller Magen.“ So einfach sei das damals gewesen. Dass es nun in St. Just beinahe mehr Kunstgalerien als Läden gebe, passe nicht zu dem kleinen Bergarbeiterdorf, findet er.

Dabei übt Westcornwall schon seit Jahrhunderten eine besondere Anziehungskraft auf Künstler aus. Im Jahr 1811 besuchte William Turner das Fischerdorf St. Ives und war fasziniert von dem einzigartigen Licht. Auch in St. Just lebten viele Kreative, doch erst seit einigen Jahren wird die Kunst hier auch professionell vermarktet. Neben dem Tourismus ist es eine der wenigen Einnahmequellen in einem Landstrich, in dem es sonst kaum noch Arbeit gibt. Dem Selbstbewusstsein seiner Einwohner hat die schlechte Wirtschaftslage allerdings nicht geschadet – im Gegenteil. Überall wehen die kornischen Flaggen, schwarz mit weißem Kreuz. Seit ein paar Jahren gibt es wieder Kurse für die kornische Sprache, die seit über zweihundert Jahren als ausgestorben gilt. „Immer mehr Leute interessieren sich für die alten Traditionen“, bestätigt der Besitzer des Ladens „Just Cornish“ in St. Just. Seit vier Jahren verkauft er dort keltischen Schmuck und Bücher auf Kornisch. Sein Geschäft boomt. Auch alte keltische Rituale und Feste finden immer mehr Anhänger. „Wenn Sie hier nachts über die Felder laufen, kann es leicht passieren, dass Sie Leuten begegnen, die nackt um einen Steinkreis tanzen“, erzählt der Ladeninhaber. Auch so kann es eben aussehen, wenn die Bewohner Cornwalls ihre Vergangenheit zweitverwerten.