Mut zum Unorthodoxen

Gegen Argentinien spielten die Deutschen einen Doppel-Catenaccio. Die Chancen gegen Italien stehen 50:50. Prognose: Wir werden keine bis an die Mittellinie vorgerückte deutsche Abwehr sehen

VON KLAUS THEWELEIT

Wunderbar, dies 1:0 Frankreichs über Brasilien. Es hätte auch 3:0 sein können, aber Les Bleus (ganz in Weiß) vermieden galant die Demontage des Weltmeisters. Gefühltes gerechtes Ergebnis: 4:1. Wunderbar auch das 1:1 der Deutschen gegen die Argentinier: in ein 4:2 verwandelt im Elfmeterschießen durch das Tandem Lehmann/Köpke und fehlerlose deutsche Schützen. Alles geht über Kooperation in Klinsmanns Team.

Den Viertelfinals gegen die Südamerikaner war eines gemeinsam: Weder Argentinien noch Brasilien gelang es, sich auch nur eine einzige Torchance zu erspielen (was übrigens auch die Portugiesen gegen England nicht schafften). Gefahr nur aus Standards und Distanzschüssen. Im Strafraum waren Argentinien und Brasilien total abgemeldet. Dabei brachte Argentinien eine Mannschaft auf den Rasen, die das Zeug zum Turniersieger hatte: das beste argentinische Team, das ich bei einer WM gesehen habe. Umso bemerkenswerter, dass sie nicht torgefährlich wurden: exzellente deutsche Deckungsarbeit.

Taz-Experte Uli Fuchs fand vor dem Spiel, dass ein Sieg der Argentinier vom Fußballfachlichen her als „normal“ angesehen werden müsste. Meinetwegen. Vom Fußballfachlichen her hätte Deutschland 1974 aber auch die Holländer nicht schlagen dürfen und Herbergers 1954er nicht die Ungarn. „Normal“ in Turnieren ist, dass eben nicht (immer) das Normale passiert. Klinsmann würde das Gerede von den deutschen Tugenden, „Hintern aufreißen“ etc. neu beleben (Fuchs) – wo es doch heute um „Konzeptfußball“ geht. Konzept? Natürlich lassen Klinsmann/Löw Konzeptfußball spielen. Bloß bleibt ihr Konzept nicht immer gleich. Ein gutes Team muss mehreres können: flotten Offensivfußball mit One-Touch-Zügen und italienischen Riegelfußball.

Gegen Argentinien spielten die Deutschen einen Doppel-Catenaccio. Das Sorgenkind Abwehr war auf den Punkt genau da, unterstützt von einem wieselflinken Mittelfeld, das ständig Bälle eroberte. Allerdings nicht so sehr, um selbst anzugreifen, sondern um Argentiniens Spielfluss zu unterbinden. Schneider und Schweinsteiger spielten streng im Dienst dieser Aufgabe und wurden erschöpft ausgewechselt. Odonkor und Borowski kamen und machten Dampf. Die wenigen ernst gemeinten Vorstöße der Deutschen ergaben dann mehr reelle Chancen als das permanente Anrennen von Pekermans Youngsters.

Die Fehler im Konzeptuellen machte Pekerman. Als er Riquelme und dann Crespo aus dem Spiel nahm und damit zeigte, dass er das 1:0 über die Zeit bringen wollte, murmelte ich in Richtung Fernseher: „Jose, das ist zu früh. Das wird sich rächen.“ Es rächte sich. Die Deutschen drehten auf bis zum 1:1, dann schalteten auch sie auf Halten, aber Argentinien, nun ohne Kopf und Spitze, hatte nichts mehr zuzusetzen.

Pekerman ging gleich mehrmals in aufgestellte Fallen: Seine rechte Defensivseite war voll eingestellt auf das Abfangen des linken deutschen Flügels, die jungen Wilden Schweinsteiger & Lahm. Bloß: Da kam gar nichts. Die beiden fingierten ein paar Angriffe, immer gleich eingekreist von drei, vier Argentiniern, drehten dann ab und spielten den Ball zurück. Das war, verbal, streng verboten bis zu diesem Spiel, hier aber eine neue Vorschrift. Was scherte Klinsmann/Löw ihr Geschwätz von gestern, ihre Predigt vom bedingungslosen Offensivfußball? Gar nichts. Sie ließen streng defensiv spielen, und dies mit unveränderter Mannschaftsaufstellung.

Das Wunder: Es klappte. Arne Friedrich verdoppelte seine Kompetenz, legte Sorin, den Motor des argentinischen Spiels, lahm; Odonkors Sprints halfen. So wie Frings/Ballack/Schweinsteiger das Antriebsaggregat Riquelme ausschalteten. Die Innenverteidiger Metzelder/Mertesacker, vereinigt zu einer vielbeinigen Deckungskrake, spielten absolut fehlerlos und räumten jeden Ball aus dem Strafraum. Jens Lehmann: 120 Min. arbeitslos. Dann allerdings seine große Stunde, eingeblendet Klinsmanns Gesicht: So siegesgewiss wie während des Elferschießens sah es das ganze Spiel über nicht aus. Er wusste, wie’s ausgeht.

Ein Schönheitsfehler war allein Argentiniens Führungstor. Bei einem Eckball kann niemand Riquelme auf den Füßen stehen. Er zirkelte den Ball in die Lücke, in die, nach Plan, ein eigener Deckungsspieler vorstößt, es war Ayala, Klose konnte nicht folgen. Solche Präzisionstore kann man kaum verhindern; glücklicherweise sind sie schwer zu erzielen.

Kloses Ausgleich zum 1:1 war das wichtigste und auch schönste deutsche Tor im Turnier: ein Tor von der Art, das man auch gegen die beste Deckung machen kann. So ein Tor macht Mut in seiner Unorthodoxie. Eingeleitet von Ballack auf links, aus der Position von Philipp Lahm, kopfballverlängert von Borowski hinein in eine Lücke, in die Klose, bis dahin kaum zu sehen, adlergleich hineinstieß: So ein Ding können auch ein Cannavaro oder Thuram im Zweifelsfall nicht verhindern; auch kein Buffon auf der Linie. So ein Tor gibt Zuversicht. Zu schweigen von Lehmanns Glanztaten. Ganz normal also, dass Argentinien draußen ist. Die Chance war 50:50, und sie ist es wieder gegen Italien. Prognose: Wir werden keine bis an die Mittellinie vorgerückte deutsche Abwehr sehen.

KLAUS THEWELEIT ist Kunstprofessor, Philosoph und Leitfigur der 78er. Er gehört zum Fußball-WM-Analyseteam der taz