Du radelst jetzt zurück ins Hotel?

PRIVATE VIEWING Rafi Pitts, Filmregisseur aus Iran, hofft auch für die WM auf die Auferstehungskräfte der Underdogs. Im Café Select in Pariser Montparnasse ward er wieder enttäuscht. Und den Deutschen drückt er stets die Daumen

■ wurde 1967 in Iran geboren und verbrachte seine Jugend in Teheran. Mit sieben Jahren spielte er das erste Mal in einem Spielfilm mit. Während des Iran-Irak-Krieges floh er mit seinen Eltern nach London. Er zählt zu den renommiertesten Vertretern des aktuellen iranischen Kinos, seine Filme wurden zahlreich ausgezeichnet. Zuletzt drehte er den Spielfilm „Zeit des Zornes“, der auf der Berlinale 2010 uraufgeführt wurde und demnächst auf DVD erscheint.

AUS PARIS INES KAPPERT

„Die ersten konspirativen Treffen von Filmleuten haben da hinten in der Ecke stattgefunden“, sagt Rafi Pitts und zeigt mir, eben im Café Select eingetroffen, einen Ecktisch, der sich tatsächlich den Blicken der meisten anderen Besucher entziehen dürfte. Mit sechzehn, ungefähr, habe er dort erstmals gesessen. Jetzt ist er 43, macht selbst Filme, und hier hinten im Lokal läuft Fußball.

Noch allerdings die Tour de France, ehe die Nachrichten folgen, dann, ohne Vorgeplänkel, wird das Halbfinale ausgestrahlt, Holland gegen Uruguay. „2:0 für die Niederlande“, sagt Rafi Pitts voraus. Er liebt Fußball, er wuchs im Iran und in Großbritannien, also in zwei Fußballnationen auf, bevor er als Jugendlicher zwischen London und Paris pendelte. Natürlich hat er auch selbst gespielt. Dann wurde Rauchen zu seinem Lieblingssport. Er zuckt gut gelaunt mit den Schultern.

Apropos, wo sind deine Zigaretten? Pitts grinst verschmitzt: „Ich hab aufgehört, bis September. Wenn alles wieder gut ist, fange ich wieder an.“ Er freut sich über mein Fragezeichen im Gesicht und erläutert: „Während der Berlinale wurde klar, dass ich wegen ‚Zeit des Zorns‘ ernsthaft in Schwierigkeiten bin, also erst mal nicht zurück nach Teheran kann. Kurz darauf wurde mein Regieassistent wegen meines Films verhaftet, und ich saß hier in Paris und konnte nichts machen.“

Jetzt ist Pitts sehr ernst geworden. „Ich musste dringend etwas gegen meine Depression unternehmen“, fährt er fort. „Entzugserscheinungen als Ablenkung oder so eine Art Gegengift erschienen mir da hilfreich.“ Er greift zum Perrier. „Geht es mir jetzt schlecht, dann denke ich: Das ist, weil dir die Zigaretten fehlen, aber dieser Schmerz wird nachlassen. Es gibt also Hoffnung.“ Und der Trick funktioniert? „Einigermaßen“, sagt er und beginnt in seinen Taschen zu kramen. Riesengroße Antibiotikatabletten kullern auf den Tisch. „Die Zahnoperation heute war echt scheiße“, er lächelt, „mit Gegengiften bin ich gerade ziemlich gut dabei.“

Natürlich will er wieder zurück nach Iran, aber nachdem sein Kollege Rafar Panhabi verhaftet wurde, könne ich mir ja ausrechnen, wie die Situation im Moment sei. Alle schrieben, Panhabi sei wieder frei, mithin alles wieder gut, doch das sei Unsinn. Der Kollege wartet auf seinen Prozess, und ob er jemals wieder einen Film drehen kann, ist offen. Es ist noch nicht mal klar, weswegen sie ihn anklagen. „Und die Grüne Bewegung?“, frage ich. Pitts wägt jetzt jedes Wort ab: „Es gibt ein Problem zwischen Basis und Führung“, setzt er an. „Erstere ist ungeduldig. Sie will jetzt eine Perspektive und vor allem eine Antwort darauf, wofür diese Revolution eigentlich gut war und gut ist. Massawi und seine Leute gehörten zum einstigen Establishment, mit zu viel Aufbruchstimmung können sie nichts anfangen. Insofern: Im Moment finden die beiden nicht gut zusammen.“ Gibt es eigentlich Public Viewing im Iran? – Natürlich, man guckt in den Cafés, ziemlich hoch her geht’s da. Fußballstars sind unsere Popstars.

Die Stimmung im Café Select, dem traditionsreichen Intellektuellenort? Eher lausig. Außer drei alten Männern am Nebentisch interessiert sich keine Sau für Fußball. Wie überhaupt in ganz Paris Public Viewing kein Thema ist. Selbst Le Monde hat an diesem Tag die Deutschen als einzigen Lichtblick der WM gelobt. Der Pariser wendet sich wohl anderen Vergnügungen zu.

Pitts findet die Deutschen großartig. Unbedingt sollen sie gewinnen, gar keine Frage. Für ihn verkörpert das Team von Löw das Grundprinzip dieser WM: Keine Zeit fürs Stars. Gerade als sich Mick Jagger und Leonardo DiCaprio anschicken, das Event für sich zu entdecken, und Paris Hilton mit Drogen wedeln muss, um aufzufallen, okkupiert der Underdog Deutschland – „La Mannschaft“, wie es in Paris heißt – die Aufmerksamkeit fast allein. Pitts findet das: großes Kino.

Das erste Tor für Niederlande fällt. Pitts fühlt mit Uruguay, schön war das Tor trotzdem. „Königlich“, meint der französische TV-Kommentator.

Was er am meisten vermisst? Pitts muss keine Sekunde überlegen: Im Iran, sagt er, ist jeder mindestens einmal am Tag lebendig. Denn jeder muss mindestens einmal am Tag ein Gesetz brechen, muss irgendwas tun, um sich Luft zu verschaffen. Das elektrifiziert. Hier beklagten die Leute das Wetter. Natürlich, wenn er aus Berlin oder Paris nach Teheran zurückkomme, sei er die ersten Wochen immer vor allem wütend. Diese ständige Gängelei, die Armut, die ganzen Drogen, mit denen die Leute sich ihre Perspektivlosigkeit vom Hals zu schaffen suchen, aber dann gewöhnt man sich dran und freut sich über jedes illegale Bier. Endlich, Uruguay holt auf. „Siehst du“, sagt Pitts, der gern auch mal den Zeigefinger hebt, „jetzt kommt der Underdog ins Spiel, jetzt beginnt der gute Film!“ Er strahlt.

Halbzeit. Wir kehren zur politischen Lage im Iran zurück. Nein, auf die Dauer wird sich das Regime nicht halten können. Niemand kann es sich leisten, sich nicht um die junge Generation zu kümmern. In vielem erinnere ihn die heutige Situation im Iran an die Sechziger, Siebziger in Frankreich. De Gaulle habe auch nicht begriffen, was da „unten“ passiert. Und auch im Iran denken sie, wenn sie die Tür schlössen, könnten sie die Flut aufhalten. Grotesk! Die Frage sei nur, wie und ob Gewalt verhindert werden kann. Niemand sollte für die Politik sterben, er habe das immer und immer wieder gesagt. In den 80 Interviews, die er während der Berlinale gegeben hat, wohl jedes Mal.

Wir sind mittlerweile bei der sechsten oder siebten Wasserflasche angelangt, Uruguay kämpft, obwohl es zurückliegt, van Bommel will Zeit schinden und erreicht das Gegenteil. Gemeinsam mit den drei alten Herren halten wir die Luft an, damit sich die Lateinamerikaner in der letzten Minute noch in die Verlängerung schießen. Doch dann kommt der Schlusspfiff, und der Underdog bleibt der Underdog. Wir bitten um die Rechnung. „Du radelst jetzt zurück ins Hotel?“, fragt mich Pitts entgeistert. Klar, das ist doch großartig mit den Leihrädern, die hier überall am Straßenrand bereitstehen. Und nachts durch Paris fahren, „das ist doch perfekt!“, entgegne ich wiederum einigermaßen erstaunt darüber, dass er sich diesen Spaß versagt.